
Autor: Jens K. Carl,
Illustrator: Jens K. Carl.
Morgel und die Riesenameise Stille herrscht weit und breit im Morgelwald. Früh am Morgen, wenn die ersten Sonnenstrahlen den Waldboden mit wohliger Wärme überziehen, erwacht rund herum um einen uralten Erdhügel allmählich das Leben. Zahlreiche winzige Hinweisschilder mit der Aufschrift: ›Hier gebieten die Königinnen der Kamete. Betreten verboten!‹, weisen die Bewohner des Morgelwaldes darauf hin, dass in diesem majestätisch anmutenden Bauwerk ein emsiges Insektenvolk sein Zuhause hat und unter keinen Umständen bei der Arbeit gestört werden will. Gut drei Meter misst der Insektenhaufen im Durchmesser und er dürfte gut einhundertfünfzig Zentimeter hoch sein. Eine quirlige Gemeinschaft Es ist ein stolzes und großes Volk. Es nennt sich das Quelltalameisenvolk. Genau genommen sind es drei Völker, die gleich von drei Königinnen in friedlicher Nachbarschaft regiert werden. Oberkönigin Kamete die Erste führt den nordnordöstlichen Teil des Ameisenstaates an. Ihre Tochter Kamete die Zweite ist die Mittelkönigin des südsüdwestlichen Abschnittes und Kamete die Vierzehnte ist die Tochter der Tochter und führt den Dritten, den westnordwestlichen Staat an. Damals, vor vielen Hunderten von Jahren, als sich die junge Königin Kamete die Erste hier im tiefen dunklen Wald mit ihrem Waldameisenvolk in der Nähe des Komstkochsteiches niederließ, herrschten Ruhe und Harmonie. Der Ameisenbau erwuchs abseits der Wege. Zu jener Zeit gab es nur wenige Trampelpfade durch den Wald, auf denen Fremdlinge, wie etwa Mönche aus dem nahe gelegenen Kloster, Waldarbeiter, Handwerker oder Wanderer aus den angrenzenden Siedlungen entlangliefen. Es gab kaum Schneisen im Unterholz, auf denen die Reiter der Landgrafen zwischen der Wallburg und der Schowingburg durch den Wald trabten. Und es gab schon gar keine breiten Wege, auf denen ein von Ochsen oder Pferden gezogenes Fuhrwerk hätte entlangfahren können. Man vermochte also von jeher ungestört und friedlich dem täglichen Treiben und Streben nachzugehen. Heutzutage jedoch ist es vorbei mit der Ruhe, denn nun führen ein befestigter Fahrweg und ein Wanderpfad dicht am Ameisenbau vorüber. Dauerlärm ist tagsüber angesagt und hin und wieder lässt eines der vorbeifahrenden Eisengefährte das enorme Bauwerk der Quelltalameisen in seinen Grundfesten erschüttern. Und so kommt es, wie es kommen muss. Ein Unglück naht. »Och, ja, das wird ein wahrlich schöner Tag. Zum Glück war heute Nacht alles friedlich«, rekelt sich Mittelwächterin Wamyra zur Ersten, Nummer 63 und streckt ihre sechs Beine von sich. »Gleich ist Wachwechsel. Wach auf Wamyra zur Ersten, Nummer 681, bevor dich die Oberwächterin beim Pennen erwischt.« Im Inneren des Ameisenbaues geht es hektisch und laut zu. Es ist feucht und stickig. Emsig sind die vielen Arbeiterinnen auf allen Etagen am Werkeln. In dem einen Gang sind Stützbalken auszubessern, in einem anderen ist der Weg, von Schutt und Müll freizuräumen, in einem dritten Stollen betten die Ammen ihre Brut um. »Aus dem Weg! Aus dem Weg«, ruft Oberspäherin Smaura zur Ersten, Nummer 4 und flitzt an den Wächterinnen vorbei nach draußen. Wie auf einen Bindfaden gereiht, schreiten ihr unzählige Mittelspäherinnen, Unterspäherinnen und Hilfsspäherinnen, ausgerüstet mit Ferngläsern und Funksprechgeräten, im Laufschritt hinterher. »Boah, ist das eine Schufterei«, beschwert sich Hilfsbauarbeiterin Bmeiso zur Ersten, Nummer 2567. »Und wofür das Ganze. Mir tut schon arg der Rücken weh.« Plötzlich bebt die Erde. Es rumpelt und wackelt, dass sich die Balken biegen. Hier und da prasseln Erdklumpen aus der Decke und versperren die Gänge. Sekunden später ist es auch schon wieder vorbei. Auf Ebene minus achtzehn räumen die Ammen hastig die Ameiseneier und Larven zurück in die Brutschränke, die bei dem Beben herausgefallen sind. Unterdes graben unzählige Bauarbeiterinnen die Wege frei und stützen die baufälligen Bereiche wieder mit Holzbalken ab. »Was war das?«, fragt Hilfsträgerin Tmüra zur Ersten, Nummer 5745 die Oberträgerin. »So etwas habe ich ja noch nie erlebt.« Ein schauriges Unglück Schon wieder fängt der Boden an zu zittern. Diesmal ist das Rumpeln und Wackeln noch viel heftiger als beim letzten Mal. Unter lautstarkem Getöse stürzen allerorts ganze Sektionen des Ameisenbaues in sich zusammen. Tausende Soldatenameisen stürmen sogleich an die Oberfläche, um dort für Ordnung und Sicherheit zu sorgen und einen möglichen Angriff von wem auch immer abzuwehren. Die Ameisenspäherinnen rufen über Funk um Hilfe und warnen vor dem weiteren Einsturz des Baues. »Achtung, Achtung! Dieses Eisengefährt kommt direkt auf uns zugerollt«, ruft Oberspäherin Smaura zur Ersten, Nummer 4 zur Tür des Nordostflügels hinein. »Oh weiowei! Wir sind verloren. Rette sich, wer kann.« Das riesige eiserne Ungetüm rollt rappelnd und tosend rückwärts ins dichte Unterholz hinein und geradewegs auf den Ameisenbau zu. Unzählige Soldatinnen stellen sich den Gummirädern mit Speeren und Lanzen entgegen. Vergebens. Sie können das Eisengefährt nicht aufhalten. Auch das Versprühen brennender Ameisensäure tut dem Gefährt nichts an. Quietschend und knarrend rollt das Fahrzeug auf den Erdhügel zu und knallt mit voller Wucht gegen den Baumstumpf, der im Inneren des Ameisenbaues verborgen ist und bringt so das gesamte Bauwerk zum Einsturz. Die Hinterachse drückt den Stumpf der Jahrtausende alten Eiche, welcher das Dach des metertiefen Baues bildet, weit in den Boden hinein. Ebene für Ebene, Sektion für Sektion brechen in sich zusammen. Das lockere Erdreich rieselt in die Tiefe und legt so das morsche Wurzelwerk des Eichenstumpfes frei. Willi, der Fahrer des Eisengefährtes, hatte doch glatt vergessen, die Handbremse anzuziehen, bevor er ausgestiegen war, um einen großen Stein vom Waldweg zu räumen. Ungläubig musste der dickbäuchige Mann mit roter Knollennase und grauem schütterem Haar zuschauen, wie sein kleiner Kipper rückwärts davonrollte. Er rannte noch hinterher, doch seine Kräfte ließen schnell nach und so konnte er das Fahrzeug nicht mehr aufhalten. Später versucht Willi, sein Gefährt wieder aus dem Loch herauszufahren. Vor, zurück, vor, zurück. Immer tiefer wühlen sich die Räder in den weichen Waldboden hinein. Es gelingt ihm nicht. Er steigt aus und beäugt den Schaden, den er angerichtet hat. Das Fahrwerk hat sich mit dem Baumstumpf verkeilt. Die Hinterachse steckt am Rand des rund drei Meter tiefen Loches fest und das Erdreich wird nur noch von einigen dickeren Wurzeln gehalten. Zudem hat sich ein dünner Ast in den Dieseltank gebohrt. Was habe ich nur getan? Welch ein Pech, schießt es Willi durch den Kopf. Plötzlich fasst sich der alte Mann an die Brust, stöhnt kurz laut auf und bricht bewusstlos zusammen. … Fortsetzung im eBook Weitere Kapitel:
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Guten Morgen, eine schöne Abwechslung, die neue Woche mal mit einem Märchen zu beginnen. Kam bei mir noch nicht vor. Also, das Leben kann überraschend und spannend sein !!
Freundliche Grüße
Eine tolle Idee, die dafür sorgt, sich für einen Moment in eine andere Welt zu begeben, um das evtl. stressige Umfeld und die eigene Hasterei zu vergessen.
Vielen Dank!
Märchenhafte Heimatkunde.
»Riesenameise, Dieselameise, Waldameise, da krieg ich doch gleich eine Meise«, spricht Dinco, der kleine Zirkusbär.
Mein Dank gebührt meinem lieben Freund, dem Autor Herrn Jens K. Carl, der mir die siebte Morgelgeschichte „Morgel und die Riesenameise“ gewidmet hat. Ich hatte das große Glück, diese Geschichte um einen riesigen Ameisenbau und eine eiserne Riesenameise vorab lesen zu dürfen. Sie hat mir auf Anhieb gefallen.
Ich bekam nicht nur einen Einblick in das Leben eines Ameisenvolkes und seiner Königinnen, sondern ich erfuhr auch einiges über ein ganz reales Eisengefährt. Obendrein war ich Zeuge, wie die märchenhafte Gemeinschaft am Komstkochsteich, unter Leitung des Ältestenrates, eine kolossale Rettungsaktion organisiert.
Dieses Märchen ist kindgerecht geschrieben, aber wegen des Vorhandenseins eines gewissen Zahlenverständnisses, erst für Kinder ab einem Alter von sechs Jahren zum Selbstlesen geeignet. Bemerkenswert ist die bildhafte Sprache. Ich hatte zu jeder Zeit die Geschehnisse vor Augen. Drei wunderschöne Schwarz-Weiß-Schnitte unterstützen die kindliche Fantasie.