Morgel und die Gemeinschaft am Komstkochsteich (Teil 1 der Morgelgeschichten)

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Bildinhalt: Morgelgeschichte 1 - Morgel und die Gemeinschaft am Komstkochsteich - Das Cover des gleichnahmigen elektronischen Buches - Vor einem braunen, düsteren Hintergund sieht man die beiden Zaubertannen Albasol und Albamon wachend über den geheimnisvollen Morgelwald.

Autor: Jens K. Carl
Illustrator: Jens K. Carl
Altersempfehlung: ab 3 Jahren.

Mein Dank gilt:
Frank Schumann, den Morgel-Entdecker.

Morgel und die Gemeinschaft am Komstkochsteich

Eine unerwartete Begegnung

Ein kalter Frühsommermorgen. Nebelschleier steigen über dem Komstkochsteich auf. Die ersten Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg durch den dichten Wald und zeichnen drollige Figuren auf das Wasser. Es riecht nach modrigem, nassem Holz. Die Vöglein zwitschern munter durcheinander und die Frösche quaken lauthals um die Wette.

Wie aus dem Nichts ist auf einmal Gesang und lustiges Pfeifen zu hören. Es wird immer lauter und lauter. Ein halbwüchsiges Männlein mit kurzer Badehose und spitzem Hut kommt aus dem dichten Wald daher gelaufen. Über seiner Schulter hängt ein großes Badetuch. Wie an jedem Morgen ist es zum Teich unterwegs, um seine Bahnen darin zu ziehen. In seiner Hand hält es ein kurzes Stöckchen. Es ist sein Zauberstab. Immer dann, wenn es barfüßig auf einen trockenen Ast oder einen Baumzapfen tritt, wird sein lustiges Trällern durch ein Grummeln und einem lauten Aua unterbrochen.

Das Männlein ist ein Waldkobold und er nennt sich Munk Orgu-Telas. Munk lebt hier schon seit vielen hundert Jahren in der Nähe der Hohen Wurzel.

Gut gelaunt am Ufer angekommen, ist jählings ein Stöhnen und Gluckern zu hören.
Munk ist auf dem feuchten Matsch ausgerutscht und an der schmalen Uferböschung ins Wasser geplatscht. Nur sein spitzer Hut schaut noch heraus.
Pitschnass und von oben bis unten mit Teichpflanzen und Schlamm bedeckt, schimpft der Kobold laut vor sich hin: »Autsch mein Po! … Eyers-maners-duers, noch einmal! Ist das glatt hier. … So ein Schlamassel. Bäh! … Nanu, wo ist denn mein Zauberstab hingeflogen? … Ich muss gleich nach ihm suchen.«

Unterdes taucht auf der anderen Seite des Teiches ein kleines, zierliches Rehkitz auf. Beim Fangenspielen mit einem hübschen, bunten Schmetterling hat es sich hierher verlaufen und seine Mutter aus den Augen verloren. Und wie das eben manchmal so ist, hat das Kitz vor lauter Herumrennen und Herumtollen ganz vergessen, dass es sich eigentlich nicht von ihr entfernen soll.
Das Rehkitz muss lauthals lachen und wälzt sich vor Freude am Boden umher, als es das Männlein im hohen Bogen ins Wasser platschen sieht.

»Was gibt es denn da zu feixen? Der muss aufpassen, dass ich ihm nicht die Ohren langziehe!«, schimpft Munk vor sich hin, während er im Dickicht nach seinem Zauberstab sucht. »Ah! Da ist er ja!«
»Du bist so schmuddelig«, ruft das Rehkitz dem Kobold zu. »Wie du da so reingeplumpst bist. Das sah schon schreiend komisch aus.«
»Wer bist du denn? Ich habe dich hier noch nie gesehen. Wie heißt du?«, möchte Munk wissen.
»Wer? Wie? Was? Ich?«, schaut sich das Rehkitz fragend um. »Was meinst du damit: Wie heißt du?«
»Ob du einen Namen hast, möchte ich gern wissen. … Mein Name lautet Munk Orgu-Telas und ich bin ein Waldkobold.«
Das Kitz verdreht die Augen: »Echt? Munkor … was? Das kann ich gar nicht aussprechen. Also, meine Mutti nennt mich immer Rehkitz.«
»Wie einfallsreich! Rehkitz«, schmunzelt Munk. »Dann heißt deine Mutter wohl Rehricke?«
»Nein! Mutti heißt Gertrud«, erwidert das Kitz forsch.
»Du bist ja drollig. Wo kommt ihr noch mal her?«
»Och, keine Ahnung. Wir sind schon sehr weit gelaufen. Tagein, tagaus. Mir tun schon richtig die Beine weh. Mutti sagt immer, wir müssen für uns ein sicheres Plätzchen suchen. Was auch immer das bedeuten mag«, antwortet das Rehkitz.
»Ganz einfach. Das bedeutet, deine Mutter macht sich große Sorgen und wünscht sich nichts Sehnlicheres, als dich an einem sicheren Ort aufwachsen zu sehen.«
»Ist dies etwas Gutes?«, möchte das Kitz wissen.
»Klar, ist dies etwas Gutes. Das will doch jeder«, antwortet Munk. »So, nun will ich erst einmal ein paar Runden schwimmen.«

Das kleine Kitz schaut dem Kobold mit seinen großen, braunen Knopfaugen eine Weile nach und wartet ab, bis dieser wieder an ihm vorüber schwimmt und fragt: »Wo sind wir hier?«
»Wir sind hier am Komstkochsteich und der kleine Bach dort drüben heißt Badewasser«, antwortet Munk.
»Badewasser? Weil du darin badest?«, feixt das Kitz.
»Pipifax! Du kannst einem aber auch richtig Löcher in den Bauch fragen«, gluckst Munk vor sich hin, denn beim Reden schwappt ihm jedes Mal ein Schluck Wasser in den Mund. »Nun geh weiter! Lass mich in Ruhe meine Bahnen ziehen.«

Nach kurzer Zeit meldet sich das Rehkitz wieder zu Wort: »Also, jetzt sage ich dir mal was. Du brauchst einen lustigeren Namen. Vor allem einen, den auch ich mir merken kann.«
»Häh? … Wieso das denn?«, fragt der Kobold verdutzt nach. »Ich bin ganz zufrieden mit meinem Namen. Den habe ich nun schon viele hundert Jahre. Bisher hat sich noch niemand bei mir beschwert.«
»Oh doch! Ich beschwere mich gerade. Mal überlegen, was passt da zu dir: Mmh … Mu-or-te … oder Morg-ut … Mmh … oder Morgel. … Jawohl, ich habe es! Ich nenne dich einfach Morgel. Der ist gut. Der ist viel besser als Munkor … oder wie auch immer. Du siehst sogar aus wie ein richtiger Morgel. Das wird sicher mein Lieblingsname«, ist das Kitz fest überzeugt und hüpft einmal, zweimal voller Freude im Kreis herum.
»Morgel? … Nun ja … ich weiß nicht … meinst du wirklich?«, überlegt Munk mit einem freundlichen Lächeln. Dann steigt er pitschnass aus dem Wasser, greift nach seinem Handtuch und fängt an, sich von oben bis unten abzutrocknen. »Na gut, ich bin einverstanden. Nenne mich von nun an Morgel. Ich nehme an, du gibst sonst sowieso keine Ruhe. Du allein darfst von nun an Morgel zu mir sagen.«

»Das will ich aber auch!«, ruft Gunther, ein äußerst schwatzhafter und neugieriger Specht, dazwischen. Er hat seit Längerem das Treiben von einem Ast aus beobachtet. »Wir werden dich alle nur noch Morgel nennen.«
»Du hast mir gerade noch gefehlt, Specht. Hast du mal wieder gelauscht?«, schmunzelt Munk und schaut hinauf zu Gunther.
»Ihr habt so laut gesprochen, da konnte ich beim besten Willen nicht weghören«, erwidert der Specht und flattert im selben Moment zu den beiden ans Ufer hinunter.
»Oje, da hast du es. Jetzt habe ich diesen Morgelnamen für immer weg«, murrt der Kobold in Richtung des Rehkitzes und lächelt es dabei an. »Wobei, wenn ich es mir recht überlege, Morgel klingt schon gut. Also von mir aus, dann heiße ich eben von heute an Morgel. Ich bin gespannt, was die anderen Waldbewohner dazu sagen werden.«

Bildinhalt: Morgelgeschichte 1 - Morgel und die Gemeinschaft am Komstkochsteich - Der Waldkobold Munk Orgu-Telas sitzt auf seinem Lieblingsstein. Er unterhält sich mit dem Rehkitz, welches sich an den Komstkochsteich verirrt hat und seine Mutter, die Ricke Gertrud, sucht.

Freudig tippt er mit seinem Zauberstab auf die Brust und schwuppdiwupp ist der Kobold von oben bis unten in einen grünen Samtanzug gekleidet. An seinen Füßen stecken plötzlich knöcheltiefe, schwarze Stiefel. »Nun, genug des Redens. Ich habe Hunger. Ihr sicher auch. Oder?«
»Immer doch!«, rufen beide laut im Chor.
»Dann lade ich euch jetzt ein«, freut sich Morgel. Geschwind setzt er noch seinen spitzen Hut auf und legt sich einen Umhang an. »Folgt mir!«
»Du siehst wirklich elegant aus«, spricht das Rehkitz und fragt: »Wo soll es denn hingehen?«
»Natürlich zur Wurzelhöhle. Dort wohnen wir zusammen mit allerlei anderen Tieren und Pflanzen«, antwortet der Specht, flattert vom Waldboden hoch und setzt sich frech auf den Rücken des Kitzes. »Der Weg dorthin ist viel zu weit für meine kleinen Beine und mit leerem Bauch ist auch das Fliegen viel zu anstrengend für mich.«
»Nun übertreibe es mal nicht, Gunther. Wir sind schon da«, mischt sich Morgel ein. »So, hier ist unser Zuhause.«
»Was soll hier sein? Ich sehe hier nichts, außer ein paar alte krumme Bäume und Büsche«, stellt das Kitz verwundert fest.

Eine zauberhafte Wurzelhöhle

Kaum hat das Rehkitz seinen Satz beendet, brummt, knistert und knarrt es fürchterlich um sie herum. Die umstehenden Bäume und Sträucher richten sich urplötzlich auf. Sie schütteln wild ihr Geäst hin und her, sodass zahlreiche Zapfen hinab hageln und ein wahrer Nadelregen auf die Drei herniedergeht.

»Sei bitte still! Die können jedes Wort verstehen«, mahnt der Kobold das Kitz an und streift sich dabei die Nadeln und Zweige vom Umhang.
»Wir sind hier an einem magischen Ort. Pass mal gut auf.«
Morgel setzt einen Schritt nach vorn, zwischen zwei uralte, prächtig anmutende Weißtannen. Auf einmal erscheint wie aus dem Nichts vor ihnen der knöcherne, hohle Baumstumpf einer gigantischen, jahrhundertealten, mit Moosen und Flechten bewachsenen Buche. Dann macht er einen Schritt zurück und der Stumpf ist wieder verschwunden. »Toll, nicht wahr? Wir wollen doch nicht, dass unser Zuhause sofort von jedem gesehen wird«, fügt er noch hinzu.
»Boah, das ist ja Zauberei!«, ruft das Kitz verblüfft.
»Also, ich sehe die Höhle immer noch«, gibt der Specht an.
»Du wohnst doch auch hier, Gunther. Deshalb siehst du die Höhle zu allen Zeiten«, erwidert Morgel. »Und nun möchte ich dir, liebes Rehkitz, zwei meiner besten Freunde vorstellen«, und umarmt dabei ganz liebevoll und fest eine der beiden Weißtannen.
»Unsere besten Freunde, bitte schön!«, mahnt Gunther den Kobold an.
»Natürlich unsere Freunde«, berichtigt sich der Morgel. »Dies ist die Zaubertanne Albamon und gegenüber ruht die gute Albasol. Ich möchte euch beiden das Rehkitz vorstellen. Ihr gestattet doch, dass ich ihm das Innere unserer Wurzelhöhle zeige.«
»Aber sicher darfst du das, auch wenn mir das Rehlein ziemlich vorlaut erscheint«, antwortet Albamon mit tiefer, kratziger Stimme.
»So ein hübsches Kerlchen, aber auch. Bleibt es denn für länger bei uns? Es ist schön, dich kennenzulernen«, verbeugt sich die zweite Weißtanne. »Gestatten, Albasol!« Dann richtet sie sich wieder auf und schwenkt dabei lustvoll krächzend ihre Äste und Zweige hin und her. »Ich bin eine Zaubertanne. Sieh nur, wie prachtvoll und wunderschön ich bin.«
»Gib nicht immer so an, Albasol! Hallo mein Kleiner, ich heiße Albamon. Wir beide wachen zusammen über Herrn Munks Koboldhöhle und ab sofort mit Freuden auch über dich, falls du dies möchtest. Ach was, all unsere Baumfreunde rundherum würden zu gern auf dich aufpassen wollen.«
»Ich freue mich auch, euch beide kennenzulernen«, grüßt das Rehkitz freundlich und mit weit aufgerissenen Rehleinaugen zurück.
»Stellt euch nur mal vor, Munk nennt sich ab heute nicht mehr Munk. Das Kitz hat ihm einen neuen Namen verpasst. Er heißt von jetzt an Morgel. Ihr wacht also ab sofort über Herrn Morgels Koboldhöhle«, flüstert Gunther Albasol ins Astloch.
Verwundert und sprachlos schauen sich die beiden Weißtannen an.
»Na, das muss ich aber gleich meinen Mittannen erzählen«, platzt es aus Albasol heraus.
»Nun reicht es aber mit euren albernen Sticheleien. Ich heiße von jetzt an Morgel. Eyers-maners-duers, noch einmal! Lasst uns endlich weitergehen. Ihr zwei könnt euch nützlich machen und derweil Ausschau nach des Kitzes verloren gegangener Mutter halten. Sie heißt Gertrud. Merkt euch diesen Namen gut! Sie muss irgendwo hier herum äsen«, gibt Morgel den beiden Tannen zu verstehen. »Und nun, Rehkitz, folge mir bitte!«

Die drei gehen mit kurzen Schritten langsam auf den kleinen Baumstumpf zu. Mit jedem Tritt, den sie näherkommen, beginnt dieser zu wachsen und wird größer und größer. Als sie direkt vor ihm stehen, ist er so hoch wie ein Haus. Auf einmal sind auch eine Pforte und drei verschieden große Fenster zu sehen. Aus einem kleinen Schornstein steigt bunter Qualm auf.

Bildinhalt: Morgelgeschichte 1 - Morgel und die Gemeinschaft am Komstkochsteich - Das Bild zeigt die geheimnisvolle Wurzelhöhle. Rechts und links von ihr stehen zwei riesige Kiefernbäume. Der Bau hat drei kleine Fenster und in der Mitte eine Tür.

Morgel geht voraus, öffnet die Tür und fordert das Kitz in gebeugter Haltung freundlich auf: »Hereinspaziert in unsere gute Stube!«

Vorsichtig schaut das Rehkitz zur Tür hinein und staunt Bauklötzchen: »Boah, ist das eine große Höhle. Das muss sehr wohl Zauberei sein.«

Es entdeckt eine lange Tafel mit zwölf Stühlen, einen riesigen Schrank mit Töpfen und Geschirr darin und einen Kamin, in dem ein Feuer leise vor sich hin knistert und für wohlige Wärme sorgt. In der anderen Ecke steigen aus einem Backofen dünne Rauchfahnen hervor. Es duftet appetitlich nach frischem Gebäck. Daneben steht eine große Spüle, in der sich gerade zwei Mäuse ein Bad einlassen. Aus einem eisernen Hahn an der Wand lassen sie glasklares Quellwasser ins Becken tropfen.

Die beiden winken dem Rehkitz zu und rufen: »Hallo, wir sind Mio und Pio. Herzlich willkommen, du kleines Rehlein!«
»Da staunst du. Das ist nur der mickrige Vorraum. Dort hinten gibt es noch viel mehr zu sehen«, feixt Gunther und flattert zur gegenüberliegenden Tür hinüber, welche tief in den Berg hineinführt.
»Hier in der Höhle leben viele Tiere zusammen«, erklärt Morgel. »Jedes von ihnen ist einzigartig und etwas ganz Besonderes in unserer kleinen Welt. Schau nur, da oben in der Ecke hat Esmeralda ihr Netz gespannt. Ist es nicht wunderschön verwoben?«
»Klipp-klapp! Habe ich da gerade meinen Namen vernommen?«, fragt eine raue, tiefe Stimme. Leise surrend lässt sich eine halb blinde, handtellergroße Riesenkreuzspinne an einem dünnen, seidenen Faden von der Decke herabgleiten. Sie stoppt punktgenau vor den Augen des Kitzes, welches daraufhin fürchterlich erschrickt und den Atem anhält. »Guten Morgen, mein Kleiner. Lass dich mal anschauen. Mein Name ist Esmeralda. Du musst keine Angst vor mir haben. Ich bin eine nette Kreuzspinne und beiße nicht. Wie heißt du?«
»Ha … ha … hallo, Esmeralda! So eine große Spi, Spi … Spinne habe ich noch nie gesehen. Ich bin das Re … Reh … Rehkitz«, kommt es ihm nur zögerlich über die Lippen. »Ich würde jetzt doch lieber weitergehen«, flüstert es Morgel schnell ins Ohr und springt danach zur Seite.
»Du musst hier vor niemandem Angst haben. Esmeralda tut dir nichts. Sie gehört doch mit zum Ältestenrat«, beruhigt ihn der Kobold.
»Ältestenrat? Was ist das denn?«, möchte das Kitz wissen.
»Mmh, wie erkläre ich dir das? … Hier beraten sich die Ältesten und Weisesten unserer Gemeinschaft. Der Rat entscheidet darüber, wer Teil von uns sein darf, was Gutes getan und wie Schaden von uns Waldbewohnern abgewendet werden kann. Zum Ältestenrat gehören der Lehrer Dachs, der Waldkauz Schröder, Esmeralda und meine Wenigkeit.«
»Aha, ihr seid also die hohen Tiere hier im Wald«, glaubt das Rehkitz zu verstehen. »Von solchen Tieren hat mir meine Mutti schon einmal erzählt. Aber warum müssen das nur die Älteren machen? Was ist mit den Jüngeren?«
»Eine berechtigte Frage«, stellt Morgel fest. »Die Alten haben vieles erleben dürfen und sie zeigen uns täglich, wie ihre Erfahrung und ihre erlangte Klugheit zum Wohle der Gemeinschaft beitragen können. Ohne sie wäre unsere kleine Welt mit Sicherheit nicht das, was sie heute ist. Daher gehen hier alle äußerst respektvoll mit den älteren Bewohnern um.«
»Ich mag alte Tiere«, gibt das Rehkitz zu verstehen und fügt noch hinzu: »Frag meine liebe Mutti. Die ist auch alt und ich liebe sie von ganzem Herzen.«
»Seine Mutter sollte man immer lieb haben«, gibt Morgel dem Rehkitz recht. »Egal, was auch geschehen mag.«
»Das tue ich, denn Mutti ist die schönste Mutti auf der ganzen Welt«, verspricht das Kitz. »Aber warum bist du im Ältestenrat? Du siehst doch gar nicht so alt aus.«
»Oh danke, du schmeichelst mir, aber so jung bin ich wahrlich nicht mehr«, ist Morgel entzückt. »Ich lebe bereits seit über neunhundertachtzig Jahren hier am Komstkochsteich.«
»Aha! Ist das viel?«, fragt das Rehkitz verblüfft nach.
»Sicher ist das viel. Das ist eine sehr, sehr lange Zeit«, antwortet der Kobold. »Du bist erst wenige Monate alt und glaubst, bereits allerlei erlebt zu haben, aber was meinst du wohl, was ich schon alles erleben durfte.«

»Reden, reden, reden! Macht ihr noch mit? Ich dachte, du wolltest ihm die Höhle zeigen?«, erkundigt sich Gunther und fliegt ungeduldig vor dem Kamin hin und her. »Da drinnen wohnt der alte Adalbert. Komm, los, zeig dich mal!«
»Schwirre ab, du Nervensäge«, ist der Molch genervt. »Lass mich nur zufrieden! Ich will schlafen.«
»So etwas Ungezogenes aber auch. Er ist wieder schlecht gelaunt. Warum darf dieser Miesepeter eigentlich noch immer hier wohnen?«, fragt der Specht den Kobold.
»Gib Ruhe, Gunther, hier kann jeder sein, wie er gern mag. Wenn der Molch eben griesgrämig sein will, dann soll er doch. Er wird schon seine Gründe haben. Adalbert gehört zu uns, wie du zu uns gehörst«, antwortet Morgel und öffnet gut gelaunt die Tür in den Berg. »Komm, Rehkitz, hier geht es weiter. Schau dich in aller Ruhe um!«

Vor ihnen liegt ein langer Gang, von dem links und rechts je ein großer Raum abzweigt. Der Linke ist hell erleuchtet. Dort stehen kleine Bäume, Sträucher und Volieren aus Holz drinnen. Es sind auch einige Nischen mit Grünzeug darin, und es duftet nach frischem Gras und Heu. Der rechte Raum ist stockduster und es strömt ein feuchter, modriger Geruch heraus.
»Hier wohnen alle Tiere, die es tagsüber eher dunkel mögen oder solche, die ihren Winterschlaf halten wollen«, erklärt Morgel.

Am Ende des Ganges sind zwei weitere Türen. An der einen steht auf einem alten verrosteten Schild ›Nur für Kobolde‹. An der anderen Tür ist weder ein Knauf zum Öffnen noch ein Schloss daran. Was sich wohl dahinter verbirgt, fragt sich das Kitz insgeheim.

»Schau nur hinein in meine gute Stube«, fordert Morgel das Rehkitz auf. »Hier wohne ich.«
Sprachlos und mit großen Augen betritt das Kitz den mit edlem Holz vertäfelten Raum. Es duftet nach frischem Harz und nach Tannennadeln. Sein Blick fällt auf einen riesigen kunstvoll bemalten Schrank und eine ebenso bäuerlich verzierte Truhe, die auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers stehen. Unter dem Fenster schließt sich ein edler, mit Intarsien versehener, Sekretär an. Daneben thront ein mit weinrotem Samt bezogenes Sofa mit wuchtiger Lehne und goldgelben Kordeln daran. In der Mitte des Raumes befindet sich ein massiver Tisch mit vier Lehnstühlen, die alle mit ebenso rotem Samt gepolstert sind wie das Sofa. Hinter einem Raumteiler steht ein Himmelbett. Es ist so breit, dass bestimmt fünf oder mehr Kobolde, wie Morgel einer ist, darin schlafen könnten. Obenauf liegt ein kleiner weißer Hund. Er ruht tief und fest. Neben dem Bett steht eine beleuchtete Vitrine mit allerlei kunstvoll verzierten Büchern und einem Häufchen verstaubter Tonscherben darin. Hier und da hängen Bilder mit Tiergesichtern an den Wänden. Auf einem entdeckt das Kitz einen grimmig dreinschauenden Wolf und erstarrt vor Schreck.

»Das ist Banjo, ein Wolfshund«, spricht Morgel mit ruhiger Stimme und zeigt voller Stolz auf das Gemälde. »Er war über viele Jahre ein wirklich guter und treuer Gefährte.«
»Was ist mit ihm geschehen?«, fragt das Rehkitz mit zittriger Stimme.
»Banjo hat uns vor langer, langer Zeit verlassen«, antwortet der Kobold traurig. »Er ist ausgezogen, um nach seinen Vorfahren, tief im Osten, zu suchen. Leider ist er bis heute nicht zurückgekehrt. Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob er noch lebt.«
»So ein Tier hatte Mutti und mich eines Nachts fast zu Tode gehetzt. Zum Glück entdeckten wir einen Unterschlupf, in dem wir uns verstecken konnten«, schluchzt das Kitz aufgeregt und voller Angst in den Augen.
»Das war bestimmt nicht Banjo! So etwas hätte er niemals getan«, ist Morgel sich sicher. »Da draußen gibt es viele bedrohliche Tiere. Nur hier, innerhalb unserer Gemeinschaft, bist du außer Gefahr und wohlbehütet. … Du musst mir später unbedingt von Euren Abenteuern erzählen.«

Dann entdeckt das Kitz neben dem Himmelbett eine weitere Tür. »Was ist da dahinter?«, fragt es neugierig nach.
»Dort drinnen befindet sich meine Koboldtoilette«, spricht Morgel ganz stolz und öffnet diese. »Das ist ein Wasserklosett. So eines findest du kein zweites Mal hier im Wald. Das habe ich mir extra hier einbauen lassen.«
»Was macht man in so einer Kloilette?«, fragt das Rehkitz ungläubig nach.
»Na also, dort pullere und kacke ich hinein«, antwortet Morgel. »Dann ziehst du an der Kette und alles wird hinfort gespült.«
»Du machst deine Aa in die gute Stube?«, ist das Kitz überrascht und rümpft die Nase. »Das stinkt doch. Gibt es das etwa auch für Tiere?«
»Gute Frage«, antwortet Morgel. »Ein Wasserklosett für Tiere? Da müsste man direkt einmal darüber nachdenken. Du bringst mich da auf eine Idee.«
»Also für mich wäre das nichts«, wendet das Rehkitz sich ab und schaut verlegen drein.

Plötzlich erwacht der kleine Hund auf dem Bett. Antony ist ein pfiffiger weißer Terrier, der vor Jahren seinem Herrchen ausbüxte, sich dann im Wald der Gemeinschaft am Komstkochsteich anschloss und seither beim Kobold mit in der Stube wohnen darf.

»Wuff! Wuff! Du bist aber ein hübsches Rehlein. Sei willkommen! Mein Name ist Antony vom Leinetal. Und wer bist du?«, fragt der kleine Hund nach und wedelt vor Freude wild mit seiner Rute hin und her.
»Hallo, ich bin das Rehkitz. Du hast aber ein schönes, weißes Fell.«
»Gut, dass du jetzt wach bist, Antony. Ich schlage vor, wir drei gehen wieder nach vorn«, empfiehlt Morgel, »dort ist bestimmt schon ein schmackhaftes Frühstück für uns aufgedeckt worden.«

Als die drei im Vorraum ankommen, haben die anderen Bewohner der Wurzelhöhle und weitere Gäste bereits am Tisch Platz genommen und warten sehnsüchtig darauf, mit dem Frühstück beginnen zu können.
In Windeseile haben sie Salat aus Sauerampfer und Löwenzahn, kandierte Bucheckern und Eicheln, getrocknete Steinpilze und geröstete Maronen aufgetischt. Obendrein steht eine riesige Schüssel mit leckerem Früchtepüree aus allerlei Waldbeeren auf der Tafel. Duftendes Brot aus dem Backofen wurde daneben zu einem Turm aufgestapelt.
In einer Krippe steckt frisches Gras und Heu und auf einem Holzklotz liegt ein Klumpen Lecksalz, wohl wissend, dass gerade Rehe sich gern daran laben.
Mehrere große Holzbottiche sind mit glasklarem Wasser aus dem Quelltal gefüllt, um den Durst aller ausreichend stillen zu können. Zudem duftet es im ganzen Raum nach Kräutertee, welchen der Morgel besonders mag.

»Da seid ihr ja endlich. Wir warten bereits auf euch. Komm hierher, Rehkitz, setze dich zu mir«, winkt ein junger Fuchs den Neuankömmling herbei. »Mein Name ist Lothar vom Hocksloch. Los, komm schon her! Ich beiße dich nicht. Wohin auch, so dürr wie du bist. Da musst du wohl noch ein wenig Speck ansetzen, mein Lieber.«
»Sei nett zu ihm, Lothar! Deine Art Spaß versteht unser Besuch höchstwahrscheinlich nicht. Hier im Zauberwald sind alle tabu für dich«, mahnt Morgel den Fuchs an. »Das weißt du doch!«
»Und genau deshalb werde ich mich jetzt in meinen Fuchsbau zurückziehen. Ich kann dieses ganze Grünzeug nun mal nicht ausstehen«, spricht Lothar und schleicht auf leisen Pfoten zur Tür hinaus.

»Komm, Rehkitz, ich möchte dir jetzt die anderen Bewohner vorstellen«, spricht Morgel und führt es reihum. »Esmeralda, Gunther, Adalbert sowie Mio und Pio kennst du ja bereits. Hier sitzt unsere schlaue Lava. Sie ist eine eurasische Luchsin. Ich habe die Gute vor zwei Jahren höchstpersönlich mit der Flasche aufgezogen.«
»Guten Morgen, Rehkitz. Wenn dir der listige Fuchs ans Fell will, kommst du einfach zu mir«, beruhigt Lava es. »Ich halte dir diesen Typen schon vom Leibe. Ganz sicher! Vertraue mir!«

Unterdes krabbelt klammheimlich ein Igel durch die Stube. Vollgefressen und müde kommt Stachel, so wird er genannt, von seinem nächtlichen Streifzug zurück. Der ganze Tumult heute Morgen geht dem kleinen Kerl gehörig auf die Nerven. Er murmelt vor sich hin: »Hmm! Immer neue Gesichter, neue Gesichter. Wo das nur hinführen soll, hinführen soll.«
Flink verkriecht sich der Igel in eine dunkle Ecke unterhalb der Spüle, wo er wie eh und je unter einer Handvoll Laub den Tag verschläft.

»Ich will zuerst … Rupp, Rupp!«, grunzt Ben, ein Frischling, und schubst seinen Bruder Ken zur Seite.
Dieser quiekst zurück: »Nein, diesmal bin ich als Erster dran.«
»Rrrroi-quiek! Jetzt ist aber Ruhe hier, ihr Radaubrüder«, geht die Bache Wilma dazwischen. »Ihr beiden werdet euch doch einmal anständig benehmen können, wo Besuch da ist.«
»Dann heiße ich dich eben zuerst willkommen. Du musst meine beiden Brüder Ben und Ken entschuldigen, aber das sind ausgemachte Dummköpfe. Ich bin Molli und das hier ist meine Mutter Wilma.«
»Ist schon gut, Molli! Ich grüße euch auch allesamt. Es ist kaum zu glauben, aber hier bei euch ist es so oberfantastisch«, freut sich das Rehkitz und fügt noch hinzu: »Morgel, ich bin so froh, dich getroffen zu haben.«
»Morgel?«, schauen sich alle fragend an. »Wer ist Morgel?«
»Ihr werdet es nicht glauben, aber der Neue hat unserem Munk Orgu-Telas mal eben einen Kosenamen verpasst«, antwortet der Specht vorlaut.
»Das war doch nur ein Vorschlag«, erwidert das Kitz und schaut ganz verlegen, mit leicht gesenktem Kopf, in die Runde.
»Du musst dich nicht schämen. Eyers-maners-duers, noch einmal! Wichtig ist doch, dass mir der Kosename gut gefällt. Ich finde den fabelhaft. Ja, das ist richtig. Ab sofort dürft ihr alle Morgel zu mir sagen«, gibt der Kobold bekannt. »Ich wünsche es mir sogar.«
»Na, wenn du dir das wünschst«, stellt der Dachs mit Verwunderung fest, »dann sollte der Ältestenrat unseren Zauberwald aber auch gleich in Morgelwald umbenennen.«
»Macht nur! Macht nur!«, gibt Morgel ihm recht. »Ich werde euch nicht davon abhalten.«
»Hätte ich doch nur meinen Mund gehalten«, errötet das Kitz. »Jetzt streitet ihr euch meinetwegen.«
»Niemand streitet sich hier. Da kannst du dir getrost sicher sein«, beruhigt Morgel seinen neuen Freund.
»Wirklich? Da bin ich aber froh«, atmet das Rehkitz erleichtert auf.
»Nun hast du ja bereits Herrn Dachs kennengelernt. Er ist unser Lehrer hier und er unterrichtet alle Tierkinder in der Waldschule«, stellt der Kobold die anderen weiter vor. »Neben ihm sitzt Frosch Emerald, dann kommen die Stockente Gustav, die beiden Eichhörnchengeschwister Tammy und Yammy und die Spatzen Fridolin und Sparky. Und dort oben auf dem Schrank hockt unser Waldkauz Schröder. Er ist der Wächter über den Wald und über unsere Gemeinschaft.«
»Bist du denn allein hier unterwegs im Wald?«, fragt der Waldkauz das Kitz. »Wo sind deine Mutter und dein Vater?«
»Meine Mutti ist irgendwo dort draußen und meinen Vati habe ich nie kennenlernen dürfen«, antwortet es brav.
»Seine Mutter heißt übrigens Gertrud. Albamon und Albasol halten bereits Ausschau nach ihr«, gibt Morgel zu verstehen.
»Und wohin seid ihr unterwegs?«, möchte Schröder noch wissen.
»Ich habe keine Ahnung«, schüttelt das Rehkitz mit dem Kopf.
»Warum bleibt ihr nicht einfach hier bei uns?«, mischt sich Antony ein. »Eine Rehfamilie haben wir noch nicht in unserer Gemeinschaft. Wir könnten dicke Freunde werden. Da bin ich mir ziemlich sicher.«

Bildinhalt: Morgelgeschichte 1 - Morgel und die Gemeinschaft am Komstkochsteich - Das Bild zeigt den Ältestenrat, bestehd aus dem Waldkobold Morgel, den Lehrer Dachs, die Kreuzspinne Esmeralda und den Waldkauz Schröder unter zwei Eichenbäumen.

Plötzlich sind alle Blicke gespannt auf den Waldkobold gerichtet. »Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, gibt Morgel zu. »Wartet doch noch mit dem Essen. Ich bitte den Ältestenrat, sich sogleich in meine Koboldstube zurückzuziehen. Wir müssen uns beraten. Kommt mit!«

»Die denken gerade darüber nach, ob du für immer hier im Morgelwald bleiben darfst«, flüstert Gunther dem Kitz ins Ohr. »Wäre das nicht toll?«
»Das wäre sogar überirdisch toll«, freut es sich und fügt sogleich mit trauriger Stimme hinzu: »Aber wo ist nur meine Mutti hin? Ich vermisse sie so sehr.«

Die Gemeinschaft wächst

Als die Mitglieder des Ältestenrates zurück-kehren, richtet der Dachs das Wort direkt an das Rehkitz: »Wir haben soeben beschlossen, dich zu bitten, deine Mutter Gertrud hierher zu uns in die Wurzelhöhle zu bringen. Wir möchten euch beide fragen, ob ihr gerne hier im Morgelwald …«
Alle Tiere jubeln voller Freude los, hüpfen wie wild auf ihren Bänken und Stühlen umher und umarmen sich inniglich.
»Das mache ich sofort, Herr Dachs«, freut sich das Kitz und springt zur Tür hinaus, noch ehe der Dachs fertig aussprechen kann.
»Ein ziemlicher Hitzkopf, dieses Rehkitz«, stellt Schröder fest. »Da werden wir noch unsere helle Freude haben. Der sollte auf jeden Fall erst einmal mit in die Waldschule und etwas Kinderstube beigebracht bekommen.«
»Wohl wahr, wohl wahr!«, gibt ihm Lehrer Dachs recht. »In ein paar Tagen geht zum Glück die Schule wieder los, dann habe ich ein Auge drauf.«

Die Stunden vergehen und vom Rehkitz und seiner Mutter Gertrud ist weit und breit nichts zu sehen oder zu hören. Langsam fangen alle an, sich Sorgen zu machen. Unruhe kommt auf.
»Könnt ihr die beiden irgendwo entdecken?«, fragt Morgel die Zaubertannen vor der Wurzelhöhle. »Wo die nur bleiben? … Wo ist eigentlich dieser Fuchs hin? Hat jemand Lothar gesehen?«
Stachel ruft aus der Höhle: »Hier ist er nicht, ist er nicht!«
Gunther fliegt sogleich los und ruft nach einiger Zeit: »Ich kann die beiden von hier oben aus auch nirgends entdecken.«
»Wir müssen uns auf die Suche machen«, mahnt der Waldkauz. »Mit diesem Lothar ist nicht gut Kirschen essen.«
»Der Lothar ist schon in Ordnung. Der weiß, dass er hier niemandem auflauern darf«, beruhigt Esmeralda.
»Ihr seid alle viel zu gutgläubig. Der ist ein Tunichtgut«, mahnt Lava die Umstehenden. »Ich werde mich zu dessen Fuchsbau am Hocksloch aufmachen. Ihr solltet ebenfalls ausschwärmen und euch nach den beiden umschauen.«

Lothar hat es sich unterdes in seinem Bau am Hocksloch bequem gemacht und hält ein Nickerchen. Nach einiger Zeit stolziert ein Grünrock mit Feldstecher, Kamera und Schießgewehr am Eingang
des Fuchsbaues vorüber und verschanzt sich auf einem nahegelegenen Hochsitz. Genau in diesem Moment bemerkt der Fuchs, wie eine Ricke aus dem Dickicht auftaucht und nichts ahnend auf den Jäger zuläuft.
Das muss die Mutter vom Rehkitz sein, denkt sich Lothar und ruft ihr zu: »Geh in Deckung! Du bist in Gefahr!«
Gertrud erschrickt beim Anblick des Fuchses und ergreift die Flucht. Aus schierer Angst rast sie direkt auf den Hochsitz zu.
Lothar springt aus seinem Fuchsbau und versucht den Grünrock mit lautem Geschrei und mit winkender Rute auf sich aufmerksam zu machen. Auch Lava, die inzwischen am Hocksloch eingetroffen ist, erkennt die Gefahr für die Ricke, prescht nach vorn und zeigt sich dem Menschen.

Der Jäger ist vollkommen verwirrt, als er den Fuchs und dann auch noch die Luchsin vor dem Hochsitz entdeckt. Im ersten Moment weiß er nicht so recht, welches Tier er zuerst mit seinem Fernglas beobachten soll. In dieser Gegend ist mir bisher noch nie eine solche Wildkatze begegnet, wundert sich der Grünrock. Er hält kurz inne und zückt dann schnell seine Kamera, um wenigstens ein Foto von Lava zu schießen.

Gertrud wirkt unterdes verstört und ist von Panik getrieben. Sie rennt zwischen dem Fuchs und der Luchsin hin und her. Dann springt sie mit einem Satz ins Dickicht, um sich zu verstecken. Sie ist völlig abgehetzt und außer Atem. Erst ein Fuchs, der sie warnt und dann noch eine Luchsin, die sich für sie in Gefahr bringt. Sind denn alle verrückt hier, fragt sie sich. Wo ist nur mein kleines Kitz abgeblieben? Hoffentlich ist ihm nichts Schreckliches passiert, geht es ihr durch den Kopf.
Es ist still geworden um sie herum. Die Ricke spitzt ihre Ohren, um zu hören, ob die Angreifer noch da sind. Dann vernimmt sie eine zarte Stimme aus dem Gebüsch nebenan.

»Kommen sie mit mir, Frau Gertrud«, flüstert Lava ihr zu. »Ich bringe sie in Sicherheit. Zu Freunden. Ihr Rehkitz ist auch schon dort.«
»Wie bitte? Woher kennen sie meinen Namen? Wer spricht denn da? Wo ist mein lieber Sohn? Geht es ihm gut?«, fragt Gertrud mit zittriger Stimme.
»Beruhige dich! Hab Vertrauen! Wir tun dir nichts«, besänftigt Lothar die Ricke. »Folge uns einfach.«
»Träume ich?«, fragt Gertrud laut. »Könnte mich mal jemand kneifen? … Aua! Das tat weh!«
»Du wolltest doch gekniffen werden«, antwortet Lothar. »Also kommst du nun mit?«
»Spüren sie nicht diese Magie, die hier in der Luft liegt?«, möchte Lava wissen. »Wir laden sie ein in eine märchenhafte und behütete Welt. Vertrauen sie uns!«
Gertrud fasst sich ein Herz. Sie spürt den besonderen Zauber und tritt aus dem Dickicht hervor. Vor ihr stehen in der Tat ein freundlich dreinschauender Fuchs und eine liebevoll lächelnde Luchsin, die anscheinend beide nur das Beste für sie wollen.

»Wo bringt ihr mich denn hin?«, fragt Gertrud.
»Zur Wurzelhöhle des Waldkoboldes Munk Orgu-Telas. Das ist der Fürst des Waldes hier. Heute Morgen hat er sich deines Kitzes angenommen, weil es allein umhergeirrt ist«, antwortet Lava. »Ihm geht es gut. Dein Sohn sucht bereits nach dir.«
»Du gehst keiner Enttäuschung entgegen«, beruhigt Lothar die Ricke.
»Eine sichere Zukunft wartet dort auf dich und dein Kitz«, fügt Lava noch hinzu.

Auf dem Weg zur Wurzelhöhle begegnen die drei dem umherirrenden Kitz. Die Freude über das Wiedersehen der beiden ist riesig.
»Da bist du ja, ich habe dich schon überall gesucht«, ruft das Rehkitz seiner Mutter zu und tanzt wie wild um sie herum.
»Ich muss mich ein wenig verlaufen haben«, gibt Gertrud zu. »Ich dachte, du bist in meiner Nähe und versteckst dich bloß so zum Spaß.«
»Ach was! Da unten an dem Teich habe ich einen Munkor …, quatsch, einen Morgel getroffen«, erzählt das Kitz seiner Mutter voller Begeisterung in einem fort. »Der Morgel ist mein neuer Freund. Er hat mir seine Höhle gezeigt. Zwei Zaubertannen stehen vor seinem Haus. Die können sogar sprechen. Außerdem hat er mir seine Waldfreunde vorgestellt und mich zu einem großartigen Frühstück eingeladen. Das ist alles so oberfantastisch. Können wir nicht hierbleiben? Bitte Mutti! Bitte, sag doch ja!«
»Also, ich weiß nicht. Ich verstehe gar nicht, was du da alles erzählst«, spricht Gertrud ganz verwirrt. »Bist du sicher, die wollen uns hier haben?«
»Da bin ich mir ziemlich sicher«, beruhigt Lothar die Ricke. »Also, ich wäre nicht überrascht, wenn der Ältestenrat nicht längst darüber entschieden hat, euch beide hier aufzunehmen.«
»Aber ich bin überrascht, mein Lieber, von dir«, flüstert Lava Lothar ins Ohr und nimmt ihn zur Seite. »Ich hätte nicht gedacht, dass du dich so für ein fremdes Tier ins Zeug legst.«
»Na ja, da kannst du mal sehen«, erwidert der Fuchs mit geschwollener Brust, »es steckt eben doch eine Menge Gutes in mir.«

Als die vier vor der Wurzelhöhle ankommen, ruft Lava dem Morgel schon von Weitem zu: »Wir haben sie! Wir haben sie! Wir haben die Ricke am Hocksloch gefunden und das Kitz haben wir auch unterwegs eingesammelt.«
Freude und Erleichterung kommen unter allen Tieren und beim Kobold auf. Es bricht erneut Jubel aus. Die Frischlinge tanzen Ringelreihe.
»Wir sind sehr erleichtert, dass ihr beide heil angekommen seid. Gestatten, Schröder!«, spricht der Waldkauz zur Ricke.
»Das ist übrigens Herr Morgel, von dem ich dir eben erzählt habe«, sagt das Kitz zu seiner Mutter.
»Guten Abend, Herr Morgel. Guten Abend, liebe Waldbewohner. Ich freue mich über die Einladung«, grüßt Gertrud zurück. »Ich habe mich wohl etwas verlaufen. In dieser Gegend kenne ich mich nicht aus. Wir kommen nämlich von sehr weit her. Aus dem Hermannstal.«
»Oh, das ist wirklich sehr weit weg von hier. Nun seid ihr bei uns gelandet. Ich bin der Lehrer Dachs. Ihr müsst uns später unbedingt einmal von eurer abenteuerlichen Reise hierher berichten.«

»Lange Rede, kurzer Sinn! Klipp-klapp!«, ruft Esmeralda dazwischen. »Wir möchten euch beide fragen, ob ihr gewillt seid, euch unserer Gemeinschaft anzuschließen. Bei uns findet ihr ein ruhiges und sicheres Plätzchen. Wie ich gehört habe, sucht ihr das doch.«
Die Ricke schaut überrascht in die Runde. Sie hat nicht damit gerechnet, so schnell eine Bleibe für sich und ihr Kitz zu finden.
»Sag ja! Bitte, sag ja, Mutti!«, wünscht sich das Rehkitz und springt umher. »Die sind alle so nett hier.«
»Also, wenn du das möchtest, dann sollte ich wohl Ja sagen. Ja, wir werden gerne hierbleiben«, stimmt Gertrud zu und neigt zum Dank ihr Haupt. »Es ist uns beiden eine Ehre, zu dieser Gemeinschaft gehören zu dürfen.«
»Das ist eine sehr gute Entscheidung. Ihr werdet es bestimmt nicht bereuen«, spricht Morgel erleichtert. »Dann werden wir gleich mit dem Aufnahmezeremoniell beginnen. Bitte tretet beide vor. Senkt euer Haupt.«
Sofort kehrt im Wald völlige Stille ein. Der Kobold zieht seinen Zauberstab heraus und tippt den beiden Neulingen nacheinander auf die Stirn. Mit einem Mal erscheinen zwei blau funkelnde Lichter vor ihren Augen und tanzen lustig hin und her. Eine Wolke aus silberglänzenden Sternenstaub umhüllt ihre beiden Körper und steigt empor.
»Ihr seid von nun an Gefährten der Gemeinschaft am Komstkochsteich«, spricht Morgel die Zauberformel. »Solange ihr das thüringische Land nicht verlasst, sei euch beiden ewiges Leben vergönnt. Die Gemeinschaft wird stets für euch sorgen, Frieden und Sicherheit bieten. Seid von Herzen willkommen!«

Ende

Was die Ricke Gertrud und ihr Rehkitz auf ihrer langen Reise durch das Thüringer Land erlebt haben, was es mit der geheimnisvollen zweiten Tür in der Wurzelhöhle auf sich hat, ob Morgel jemals seinen Wolfshund Banjo wieder trifft und warum Morgel diese Tonscherben sammelt, erfährst Du in einer der nächsten Geschichten, die sicher irgendwann einmal auch für Dich hier erzählt werden. Bleib voller Neugier!

Erfahre mehr über die Figuren, Dinge und Orte in den Morgelgeschichten.
Erfahre mehr über den Autor und Illustrator der Morgelgeschichten.

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6 Kommentare:

  1. Gerald Winterscheid

    Die große Ausnahme!
    Ich war gestern auf der Stuttgart Buchmesse als Gast unterwegs. Ich war beeindruckt, von der Fülle an Angeboten. Die Menschenmassen strömten wie Lämmer durch die Reihen. Von Kinderbüchern bis zur Fantasy, über Krimis und Liebesromane war alles vorhanden. Allerdings gab es auch allerlei Klimbim, fast schon wie auf einer Esoterikmesse, zu sehen.
    Eines ist mir allerdings besonders aufgefallen, der kleine Stand mit den Morgelgeschichten. Was suchen Thüringer Märchen mitten im Schwabenländle, habe ich mich gefragt. Als ich die Bücher durchblätterte und die liebevollen Schattenrisse entdeckte, war ich hin und weg. Sie unterschieden sich so extrem von den kunterbunten Büchern, die ich zuvor durchblätterte. Die kurzen Testpassagen, die ich in aller Eile anlesen konnte, führten mich sofort in eine zauberhafte Welt, die es ja real, wie mir der Autor, Herr Jens K. Carl, versicherte, im Thüringer Wald, unweit von Waltershausen, geben soll. Eine Welt verschiedenster Tiere und Pflanzen, deren Alltagsleben wir miterleben dürfen. Alle unsterblich vereint um den Waldkobold Morgel und dessen gute Freundin, die Waldfee Regina.
    Ich kann diese märchenhaften Kurzgeschichten nur empfehlen. Viel Spaß.

  2. Ingeborg Löffler

    Die Morgelgeschichten von Jens K. Carl sind sogenannte „Moderne Märchen“. Sie spielen in der heutigen Zeit und schaffen einen hervorragenden Wechsel von der realen Gegenwart in die Fantasiewelt. Hauptfiguren sind in diesem ersten Teil ein Kobold, namens Munk Orgu-Telas, und das Rehkitz. Es geht in diesem Märchen um Freundschaft, Zusammenhalt und Selbstlosigkeit innerhalb einer Gemeinschaft aus Pflanzen und Tieren.
    Die Morgelgeschichte ist lustig und ernst zugleich. Durch die einfache kindgerechte Sprache lässt die Handlung schnell verinnerlichen. Das Cover wirkt ein wenig düster, dennoch ist der Inhalt herzerfrischend und unterhaltsam.

  3. Man möchte ein Teil der Gemeinschaft sein.
    Das Märchen vom Waldkobold Munk Orgu-Telas und dem Rehkitz ist lustig und herzergreifend geschrieben. Die bildhafte Beschreibung des Waldes rund um den Teich und des Inneren der zauberhaften Wurzelhöhle ist bemerkenswert und lässt den Leser in diese wundersame Welt eintauchen. Die Sprache ist kindgerecht und einfach. Ich freue mich schon auf weitere Morgelgeschichten dieses Autors.

  4. Hallo, lieber Herr Carl,
    ihre Geschichten sind einfach total Klasse…..so spannend und witzig und auch lehrreich . Ich würde mir sehr wünschen, dass es diese als Buch zu kaufen gibt (oder gibt´s das schon?), denn diese Abenteuer sind auch zum Vorlesen in der Grundschule gut geeignet….
    Bravo und weiter so – ich bin ein großer Fan!

  5. Hallo Herr Carl, herzliche Grüsse aus Hermsdorf/Thüringen. Bin durch den Artikel im AA auf Sie und Ihre wunderbaren Geschichten gestoßen. Die schwarz-weissen Bilder dazu – einfach perfekt. Bitte machen Sie weiter so.
    Bei der 1. Geschichte bitte ich um eine kleine Korrekturlesung zum Text:
    Am täglichen Frühstück…
    In grosser Vorfreude auf weitere schöne Geschichten von Ihnen (vielleicht denken Sie über ein Buch nach?)

  6. Sehr geehrter Jens Karsten Carl, ich liebe Tiergeschichten und habe selbst schon viele geschrieben. Für jedes Enkelkind habe ich ein Büchlein geschrieben und alle Geschichten erzählen von Tieren, genau wie bei Ihnen. Es sind schöne Geschichten über den Morgel. Ich kann mich so gut in diese Natur und Tierwelten versetzen. Die letzten zwei Bücher haben mein Mann und ich über einen Eigenverlag bei Amazon veröffentlicht, vielleicht gelingt es ihnen auch. Ich wünsche Ihnen noch viele schöne Ideen und alles Gute.

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