Morgel und der kleine Zirkusbär (Teil 5 der Morgelgeschichten)

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Bildinhalt: Morgelgeschichte 5 - Morgel und der kleine Zirkusbär - Das Cover des gleichnahmigen elektronischen Buches - Der kleine Zirkusbär Dinco flieht vor dem Fahrer eines Müllautos.

Autor: Jens K. Carl
Illustrator: Jens K. Carl
Altersempfehlung: ab 4 Jahren.

Kleine Reihe: Zirkuswelt
Fortsetzung in: Morgel und der Möchtegernzauberer

Mein Dank gilt:
Dr. med. vet. Volkmar Weidmann aus Uhlstädt-Kirchhasel,
dem besten Tierarzt der Welt.

Morgel und der kleine Zirkusbär

Eines schönen Tages schlug auf einem Festplatz unterhalb der Wartburg ein kleiner Familienzirkus für ganze drei Tage sein Zelt auf. Viele Schaulustige waren zu den Vorführungen gekommen: Mütter und Väter mit ihren Kindern, deren Großeltern, Tanten und Onkels, Cousinen und Cousins.

Am heutigen Abend wird die Schlussvorstellung stattfinden. Das Zirkuszelt ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Draußen prasselt derweil Regen in Bindfäden auf das Zeltdach hernieder. Es stürmt und die Zeltmasten schwanken bedrohlich hin und her.

Die Artisten und Tiere geben mal wieder alles. Zu sehen ist ein bunter Clown mit einem in die Jahre gekommenen Esel, die zusammen allerhand Quatsch machen. Dann tritt noch ein Jongleur mit Feuerfackeln auf, und zwei junge Pferde, die ständig im Kreis herumlaufen. Danach eine Familie aus Hochseilartisten und zum guten Schluss eine Bärin mit ihrem niedlichen Sohn.

Bildinhalt: Morgelgeschichte 5 - Morgel und der kleine Zirkusbär - Das Bild zeigt einen Clown und den Zirkuszauberer Salbustini auf dem Vorplatz des Zirkuszeltes, wie diese Kunststückchen vorführen. Der Clown tanzt und der Zauberer jongliert mit Feuerfakeln. Links sieht man einen Käfig in dem ein traurig dreinschauenden Bär sitzt.

Der kleine Zirkusbär Dinco und dessen Mutter Dana sind die Hauptattraktion in der Manege. Beide jonglieren mit großen Gummibällen, balancieren auf dem Schwebebalken umher und fahren auf dem Einrad im Kreis herum. Zum Schluss springt der junge Bär noch durch einen brennenden Hula-Hoop-Reifen, der ihm vom Zirkusdirektor hingehalten wird.

Dana ist von den täglichen Anstrengungen in der Manege völlig erschöpft und vom Leben im Zirkus gezeichnet. Am liebsten hätte sie aufgegeben, denn sie ist alt und krank. Sie hat bereits viele graue Haare bekommen. Seit dem Unfall des Bärenvaters vor knapp einem Jahr fühlt sie sich sehr einsam. Aber sie muss durchhalten, um ihren Sohn Dinco zu behüten.

Dincos unheilsamer Verlust

Auch der Zirkus selbst ist in die Jahre gekommen. Die Zeltplane ist löchrig. Die Zugmaschinen, die Wohnwagen der Zirkusfamilien und die beiden Materialwagen, auf denen auch die Käfige der Tiere stehen, sind alt und klapprig. Die Fahrgestelle knacken, das Profil der Reifen ist abgenutzt und die Achsen und Bremsen quietschen beim Fahren.

Noch am selben Abend, gleich nach der letzten Vorstellung, wird das Zelt abgebaut und auf den Hängern verstaut. Es geht hektisch zu und laut. Zum Schlafen bleibt kaum Zeit für die Zirkusleute. Auch Dana und Dinco bekommen in dieser Nacht kein Auge zu.
Gleich nach Sonnenaufgang setzt sich der Tross in Bewegung. Die nächste Vorstellung soll bereits am Abend auf dem Waltershäuser Rummelplatz stattfinden.
Die Lastzüge sind wie immer viel zu schnell unterwegs auf der Autobahn. Es regnet nach wie vor in Strömen und die Scheibenwischer schaffen es kaum, die Sicht auf die Straße freizuhalten. Der Wind bläst ohne Unterlass. Die Hänger schaukeln hin und her.
Dann plötzlich bricht eine Achse. Der letzte Anhänger strauchelt und bringt den gesamten Konvoi zum Schlingern. Er kippt um und bleibt kurz vor der Waltershäuser Abfahrt liegen. Auf der Fahrbahn und im Straßengraben purzeln Stangen, Planen und auch der Bärenkäfig umher.

Als Dinco nach dem Sturz zur Besinnung kommt, ist es stockdunkel um ihn herum. Totenstille herrscht. Nur das leise Prasseln des Regens auf der völlig durchlöcherten Anhängerplane ist zu hören. Hin und wieder hellt in der Ferne ein Blitz den Himmel auf.
Dinco rüttelt an seiner Mutter und ruft: »Mutti, Mutti, wach auf!«
Doch sie antwortet nicht. Dana hat sich schwer verletzt. So sehr, dass sie im Sterben liegt. Mit letzter Kraft ermuntert sie ihren Sohn, zu fliehen: »Lauf, Dinco, lauf! Verstecke dich. Geh los und sei frei.« Die Bärenmutter schließt ihre Augen.

Es braucht etwas Zeit, bis Dinco versteht, was passiert ist. Erst dann kann er die Pfote seiner Mutter loslassen. Tränen fließen über die behaarten Wangen. Das Sprechen fällt ihm schwer. Sein Mund ist trocken und die Zunge klebt am Gaumen fest.

Wortlos und taumelig klettert der kleine Bär durch die verbogenen Gitterstäbe nach draußen und versteckt sich hinter einigen Büschen am Fahrbahnrand. Im Nu ist er bis auf die Haut durchnässt. Es bläst ein kalter Wind. Er friert.

Dinco schaut noch eine ganze Weile zurück. Traurig muss er mit ansehen, wie der Käfig und seine Mutter mit einem Kranwagen der Feuerwehr auf einen fremden Lastkraftwagen verladen und dann abtransportiert werden.
»Ade, Mutti«, ruft er weinend hinterher. »Ich werde dich immer lieb haben!«

Dincos irrsamer Weg durchs Land

Von nun an ist Dinco auf sich allein gestellt.
Plötzlich verspürt der kleine Bär einen stechenden Schmerz, als er mit der Pfote über sein Bein fährt, um sich den Schmutz abzustreifen. Eine dünne Eisenspitze steckt im Oberschenkel. Sie hat sich tief in den Knochen gebohrt. Die Wunde blutet stark. Mit der Zunge versucht Dinco, das Blut abzulecken und die Spitze zu entfernen, doch es gelingt ihm nicht. Oh, weiowei! Mutti, helfe mir, denkt er und schaut nochmals sehnsüchtig zur Unfallstelle zurück. Völlig erschöpft und übermüdet schläft der kleine Bär an Ort und Stelle ein.
Als Dinco wieder erwacht, hat es aufgehört zu regnen. Der Mond lugt zaghaft hinter einigen Wolkenfetzen hervor.
Ihm knurrt der Magen und Durst hat er auch. Sein Mund ist noch immer ganz trocken. Wo bleibt nur der Pfleger, fragt er sich. Doch dann wird ihm klar, niemand wird vorbeikommen, um ihm ein Stück Futter hinzuwerfen, so wie er es bisher gewohnt war. Sie sind alle weg. Was mache ich jetzt bloß so allein, geht es Dinco durch den Kopf.

Humpelnd und vor Schmerzen jammernd macht er sich auf den Weg, um nach etwas Essbarem zu suchen. Gleich neben der Autobahn entdeckt Dinco einen Bach.
Wasser, denkt er, endlich Wasser!
Überglücklich stürzt sich der kleine Bär hinein und nimmt einen großen Schluck zu sich. Angewidert spuckt er alles wieder aus.
»Bäh, was ist das denn? Pfui! Hopphopp!«, ruft er laut. »So etwas Ekeliges habe ich ja noch nie getrunken. Schmeckt so etwa das Freisein?«

Erschöpft und enttäuscht bleibt er rücklings am Ufer liegen und schaut zum Himmel hinauf. Viele kleine, blitzende Lichter fallen ihm dort oben auf.
Warum konnte ich die früher nicht sehen? Wofür die wohl da sind, fragt er sich.
Na gut, denkt Dinco nach einiger Zeit, wo Wasser ist, da ist sicher auch Futter. Ich folge einfach dem Bachlauf.
Nach wenigen hundert Metern kommt er an einer Mühle vorbei. Niemand ist weit und breit zu sehen oder zu hören. Nirgends brennt Licht. Alle Türen sind verschlossen. Auch durch die Fenster kann er nichts erblicken oder erschnüffeln. Hungrig zieht Dinco weiter. Es dämmert bereits.

Nach einer kurzen Wanderung trifft der Bär auf eine zweite Mühle. Menschenstimmen und Hundegejaule sind schon von Weitem zu hören. Als er vorsichtig um die Ecke der Zufahrt lunzt, sieht er zwei Wachhunde auf dem hell erleuchteten Hof umherlaufen. Jeder von ihnen zieht eine lange Eisenkette hinter sich her.
Oh, weiowei! Da mache ich mich lieber aus dem Staub, denkt sich Dinco.
Plötzlich schlagen die beiden Hunde Alarm. Sie haben seine Witterung aufgenommen. »Verschwinde! Sonst machen wir dir Beine«, bellen sie in seine Richtung, fletschen die Zähne dabei und preschen wie vom Blitz getroffen los.
Dinco hält sich die Pfoten vors Gesicht. Ihn über-kommt die nackte Angst.
Wie von Geisterhand zieht es die beiden Hunde ruckartig zurück und schleudert sie zu Boden. Ohrenbetäubendes Quieksen, Krächzen und metallisches Klirren ist zu hören.
Dinco ergreift die Flucht und humpelt, so schnell er nur kann, von dannen. Solche Deppen, denkt er. Zum Glück waren die Ketten nicht lang genug.

Auf einem Hügel in der Ferne sieht Dinco Lichter brennen. Dort oben werde ich sicher etwas Essbares finden, geht es ihm so durch den Kopf. Sogleich macht er sich landeinwärts auf den Weg dorthin.

Die Stunden vergehen. Der Weg nimmt kein Ende. Mittlerweile steht die Sonne hoch oben am Himmel. Es scheint ein sehr warmer Tag zu werden. Kaum ein Baum oder Strauch säumt den Wegesrand, unter dem Dinco hätte Schatten finden können.

Mit einem Mal rückt ein Traktor aus der Ferne an. Hinter ihm fliegen Fetzen von geschnittenem Gras in die Luft. Es duftet nach Heu. Plötzlich hält das Gefährt an und die Fahrerin blickt mit einem Feldstecher genau in seine Richtung.
Verflixt noch mal, denkt Dinco und hüpft schnell hinter ein dürres Bäumchen. Hoffentlich hat sie mich nicht entdeckt.
Er macht sich kerzengerade, zieht den dicken Kugelbauch ein und hält die Luft an.
Der Baumstamm ist aber so dünn, dass rechts und links noch genug Bär hervorschaut.
Geschwind macht der Bulldog eine Kehrtwende und rast in Windeseile davon.
Dinco atmet tief durch. Puh, noch einmal Glück gehabt, glaubt er, und setzt seine Wanderung ins Ungewisse fort.
Am Horizont ist eine dicht bewaldete Anhöhe erkennbar. Dem kleinen Bären steigen schmackhafte Gerüche in die Nase.
Irgendetwas Essbares muss dort oben sein, da ist er sich gewiss.
Dinco nimmt alle Kraft zusammen und schleppt sich mühevoll dort hinauf. Sein Bein ist kaum noch zu spüren. Mittlerweile ist es steif geworden und die Wunde hat angefangen, fürchterlich zu stinken.

Oben angekommen, stößt Dinco auf eine Stelle, wo mehrere Mülltonnen und Pappkartons umherstehen. Sie sind randvoll mit Dosen, Gläsern, Papier und Essensresten gefüllt.
Das duftet herrlich, denkt er sich.
Geschwind wirft der Bär die Tonnen um und durchwühlt den Müll. Er findet ein paar Würstchen, ein fast leeres Glas Honig und viel altes Brot. Überglücklich macht sich Dinco darüber her. Eine randvolle Regentonne spendet ihm Wasser und löscht endlich seinen Durst.

Dincos wundersame Begegnung

Während Dinco kopfüber in der Tonne abtaucht und nur noch sein Po und die Beine herausschauen, bemerkt er, wie sich etwas von hinten heranschleicht. Er zwängt sich heraus und dreht sich blitzschnell um. Ein rotbrauner Fuchs mit einer weißen buschigen Rute steht vor ihm, fletscht die Zähne und knurrt ihn an. Ruckzuck richtet sich der kleine Bär auf, stellt sich auf die Hinterpfoten, streckt die Brust heraus und brüllt den Fremdling an: »Brröö! Brröö!«

Lothar vom Hocksloch ist ein schlauer Fuchs und er spürt sofort, dass der kleine Bär wohl doch der Stärkere von beiden ist. Brav senkt er zum Gruße den Kopf und säuselt dabei: »Sei gegrüßt, Herr Bär. Ich wollte euch nicht erschrecken. Man nennt mich Lothar vom Hocksloch. Wie ist euer werter Name?«
»Häh, du sprichst? Ich kann dich verstehen. Wie ist das möglich? Hopphopp!«, fragt Dinco verwundert nach. »Ich dachte, das Sprechen ist so ein Trick unter den Zirkusleuten.«
Lothar erwidert: »Wie bitte? Natürlich reden wir alle miteinander. Wie sollen wir uns sonst verständigen?«

Plötzlich hebt der Fuchs seine Nase in die Höhe. Ein seltsamer Geruch macht sich breit. »Bist du etwa verletzt? Wo kommst du noch mal her?«, fragt Lothar nach.
»Aua, ja hier, am Bein. Hopphopp! Das tut schlimm viel dollerns weh«, antwortet Dinco und zeigt auf die Eisenspitze in seinem Oberschenkel.
»Uhh! Das sieht gar nicht gut aus. Die Wunde blutet aber mordsmäßig. Sie müsste, wenn du mich fragst, schnellstens verbunden werden«, gibt der Fuchs zu bedenken. »Aber mich fragt ja keiner. Äh, … wie war noch mal dein Name?«
»Dinco. Hopphopp!«
»Dinco hopphopp?«, fragt Lothar nach.
»Nein, nur Dinco.«
»Und warum sagst du dann Hopphopp?«
»Keine Ahnung«, antwortet der Bär. »Ähm hopphopp …, so ruft der Zirkusdirektor immer, wenn ich durchs Feuer springen soll. Hopphopp eben.«
»Was für ein Zirkusdirektor? Bist du etwa aus einem Zirkus ausgebüxt?«
»Ja, nein, ach was. Das ist eine lange Geschichte. Ho…«
»Dazu kommen wir später, mein Lieber, später. Die Geschichte muss erst einmal warten«, fällt Lothar ihm ins Wort. »Du brauchst sofort Hilfe. Das Beste wird sein, ich rufe den Morgel herbei. Der Kobold weiß immer, was just zu tun ist.«
»Orgel? Kobold? Was ist das denn? Hopphopp?«, fragt Dinco nach.
»Keine Angst. Du wirst es bald wissen«, antwortet Lothar. »Verstecke dich hinter den Mülltonnen und warte hier an Ort und Stelle, bis ich wieder zurückkomme. Vertraue mir! Du kannst wirklich froh sein, dass ich dir über den Weg gelaufen bin. Alles wird gut. Versprochen!«

Der Fuchs macht sich, so schnell er kann, auf zur Wurzelhöhle, welche nahe des Komstkochsteiches gelegen ist, um den Waldkobold zu Hilfe zu holen. Er weiß, der Weg dorthin ist weit und voller Gefahren, denn er muss eine Landstraße und offene Wiesen und Felder durchqueren. Am hellerlichten Tage ist es ratsam, die Siedlungen der Menschen zu meiden. Ich muss auf der Hut sein, geht es Lothar durch den Kopf. Schon heute Morgen war viel Tumult im Ort. Sirenengeheul überall. Irgendetwas Schlimmes wird da wohl geschehen sein.

Auf halbem Weg begegnet ihm Flocke, die oberneugierige Posttaube aus dem Morgelwaldpostamt. Sie hat Lothar beim Heimflug an den Otterbachsteichen entdeckt.

»Hu-ru, hu-ru! Wohin so eilig, Herr Fuchs?«, gurrt sie von oben. »Man könnte denken, ein Grünrock ist hinter ihnen her.«
»Keine Zeit, keine Zeit, meine Liebe«, japst er und rennt flott weiter. »Ich muss Hilfe holen.«
»Sagt, ist etwas Unheilvolles geschehen? Soll ich irgendwo Meldung machen? Hu-ru, hu-ru!«, möchte Flocke wissen und landet kurz vor ihm auf dem Feldweg.
Der Fuchs kann gerade noch so vor ihr stoppen. Eine dicke Staubwolke macht sich überall breit.
»Ja! Das kannst du in der Tat«, antwortet Lothar. »Fliege rasch zur Wurzelhöhle. Herr Morgel soll schnell zum Kalkberghaus kommen. Dort hält sich ein verletzter Bär versteckt. Er braucht dringend Medizin.«
»Ich bin schon unterwegs. Hu-ru, hu-ru!«, gurrt Flocke und fliegt eilig davon.
»Sag Herrn Morgel, ich treffe ihn dort«, ruft Lothar noch schnell hinterher, bevor er sich gleich wieder auf den Rückweg macht.

Dinco hat es sich inzwischen bei den Mülltonnen bequem gemacht. Seine Schmerzen im Bein spürt er kaum noch. Er futtert alles auf, was ihm in die Pfoten fällt. Sein Bauch ist mittlerweile proppenvoll. Er platzt bald.
Plötzlich rollt ein riesiges, knatterndes Ungetüm auf ihn zu. Ein Monster aus Stahl und Blech. Es ist ein Müllauto. Blinkend und piepsend macht es kurz vor Dinco halt. Zwei orangefarben gekleidete Müllmänner steigen aus und laufen nichts ahnend lustig pfeifend direkt auf die Mülltonnen zu, um sie zu entleeren.

Bildinhalt: Morgelgeschichte 5 - Morgel und der kleine Zirkusbär - Der kleine Zirkusbär Dinco flieht vor dem herannahenden Fahrer eines Müllautos. Er hat sich zwischen den Pappkartons und Mülltonnen der Gaststätte auf dem Kalkberg versteckt.

Dinco erschrickt fürchterlich. Ruckzuck springt er nach vorn und brüllt die Müllmänner an: »Brröö! Brröö!«
»Herrjemine, Hilfe, Hilfe! Ein Bär. Rette sich, wer kann!«, ruft der eine dem anderen zu, als er Dinco entdeckt. In Panik ergreifen beide die Flucht und stürmen in die Gaststube des Kalkberghauses. »Polizei, Polizei! Schnell Wirt, ruf die Polizei herbei!«

Hals über Kopf flüchtet auch Dinco in den Wald hinein. Er rennt und rennt und rennt. Blindlings stolpert er kopfüber in eine tiefe Senke. Purzelbaum für Purzelbaum rollt er schreiend vor Schmerzen einen Abhang hinunter und bleibt erschöpft unten liegen. Die Wunde ist nun weiter aufgerissen und blutet noch heftiger als je zuvor. Der kleine Bär fällt in Ohnmacht.

Als der Fuchs kurze Zeit später wieder bei den Mülltonnen eintrifft, ist der Bär verschwunden. Er ruft nach ihm: »Dinco, wo steckst du? Los zeig dich!«
Plötzlich taucht auch Morgel, der Waldkobold, vor Ort auf und fragt: »Lothar, wo ist der verletzte Bär?«
»Ich habe keine Ahnung. Vorhin war er noch hier«, antwortet er und zuckt dabei mit den Schultern.
»Und du bist dir sicher, es war ein Bär? Wie kommt der bloß in diese Gegend?«
»Ich werde ja wohl noch einen Bären von einer Maus unterscheiden können. Er hing kopfüber in der Regentonne dort. Ich war selbst ganz baff, als er auf einmal losbrüllte«, gibt Lothar zu. »Allerdings stand der riesige Mülllaster vorhin noch nicht hier. Offenbar hat sich Dinco erschreckt und ist vor dem Ding geflohen.«
»Aha, er heißt also Dinco«, stellt Morgel fest und wird unversehens unsichtbar. »Kommt da wer?«
»Polizei!«, ruft Lothar, als er sich umschaut. »Die suchen sicher den Bären. Ich muss mich auch verstecken!«

Dincos heilsame Rettung

Ohrenbetäubendes Sirenengeheul ist aus der Ferne zu hören. Es nähert sich. Drei Polizeiautos rasen mit Karacho zum Kalkberg hinauf und bremsen haarscharf vor dem Mülllaster. Eine dicke Wolke aus Staub und Dreck macht sich breit.
Eine Meute schwer bewaffneter, uniformierter Menschen tritt plötzlich aus den blau blinkenden Dreckschwaden hervor und beginnt damit, den Platz und das Dickicht zu durchsuchen.

»Lass uns schleunigst hier verschwinden und nach dem Bären suchen«, stupst Morgel Lothar an. »Los auf gehts!«
Der Fuchs schnuppert sogleich am Boden entlang und kann rasch Dincos Fährte aufnehmen. Eine frische Blutspur zieht sich durch den Wald. »Hier liegt der kleine Bär!«, ruft er nach etlichen Metern.
»Ach du Liebes bisschen. Das sieht aber schlimm aus. Die Wunde blutet wirklich stark«, stellt Morgel fest, als er in die Senke hinabgleitet und sogleich damit beginnt, Dinco zu untersuchen. Er öffnet seinen Gürtel und zieht ihn mit einem Ruck aus den Schlaufen seines Koboldkostümes heraus. Dann bindet er das Bein des Bären fachkundig ab, um die Blutung zu stoppen.
»Du wirst ihn schon heil machen«, ist Lothar sich sicher. »Wer, wenn nicht du. Ein Zauberspruch von dir und er ist wieder gesund.«
»Oh nein! So einfach ist das diesmal nicht«, antwortet der Kobold. »Er gehört nicht zu unserer Gemeinschaft am Komstkochsteich. Meine Zauberkräfte reichen in diesem Fall nicht aus.«
»Was können wir da tun?«, schüttelt der Fuchs mit dem Kopf. »Muss er jetzt sterben?«
»Eyers-maners-duers, erst noch! Nein, natürlich nicht«, platzt es aus dem Kobold heraus. »Hier kann nur noch mein Freund, der Doktor, helfen.«
»Du willst ihn zu diesem Menschendoktor bringen?«, ist Lothar entsetzt. »Du weißt doch selbst, was einem herumstreunenden Bären blüht, der den Menschen in die Hände fällt. Die sperren ihn wieder ein.«
»So etwas macht unser Doktor Freund mit Sicherheit nicht«, beruhigt ihn Morgel. »Außerdem ist er ein Tierdoktor und somit dem Wohl der Tiere verpflichtet.«
Plötzlich wird der Kobold erneut unsichtbar.
Der Fuchs schaut sich verwundert um und ruft: »Was für ein Pech! Sie haben uns entdeckt. Jetzt ist es aus.«

Drei vermummte Polizisten stehen mit ihren Gewehren oben am Rand und blicken verwundert in die Senke hinunter. Noch bevor sie begreifen können, dass dort unten ein Bär und ein Fuchs in der Falle sitzen, schnappt Morgel Lothar und Dinco am Arm. Dann drückt er auf die Medizin-Taste seines Tastendinges und koboldiert mit ihnen flugs zu Doktor Freund in die Tierarztpraxis.

»Was war das denn? Wo sind die beiden plötzlich hin?«, wundert sich der eine Polizist. »Habt ihr auch eben zwei Tiere da unten liegen gesehen?«
»Häh Mani, redest du schon wieder Unsinn? Da ist doch keiner«, erwidert Polizeiobermeister Gerd und fasst sich an die Stirn. »Seit diesem Sparkassenüberfall letztens, fantasierst du nur noch von seltsamen Tierwesen und Schatzkarten. Du spinnst doch, Mani!«
Der Dritte beruhigt die beiden: »Hier ist nichts und niemand. Streitet ihr schon wieder? Kommt und lasst uns weitersuchen.«
»Komisch. Ich glaubte echt, eben einen Fuchs und einen Bären dort unten gesehen zu haben«, murmelt Mani vor sich hin und kratzt sich dabei zweifelnd am Kopf. »Ich muss wohl mal meine Birne untersuchen lassen.«

Die Tierarztpraxis des Doktors liegt nahe am Wald, unweit vom Komstkochsteich entfernt. Doktor Freund ist im Moment der einzige Mensch hierzulande, der von der eingeschworenen Gemeinschaft am Teich weiß.
Er hat vor Jahren den Waldkobold aus einer schlimmen, misslichen Lage befreit. Seither sind die beiden, dicke Freunde. Nur der Doktor darf und kann als einziger Mensch den Morgel sehen und auch mit ihm sprechen.

Ohne Vorwarnung erscheinen der Kobold, der Bär und der Fuchs im Operationssaal der Praxis. Zum Glück wird gerade kein anderer Patient vom Arzt darin behandelt.

Bildinhalt: Morgelgeschichte 5 - Morgel und der kleine Zirkusbär - Der Waldkobold Morgel, der Fuchs Lothar vom Hocksloch und der kleine Zirkusbär Dinco tauchen plötzlich in der Tierarztpraxis des Doktor Freund auf. Dinco ist verletzt und liegt auf dem Operationstisch. Er wird vom Tierarzt untersucht. Über ihnen hängt eine große, runde OP-Lampe.

»Hoppla, habt ihr mich jetzt erschreckt. Was macht ihr hier? Und wen habt ihr denn da mitgebracht?«, möchte der Doktor wissen.
»Der Bär ist schwer verletzt. Er ist ohnmächtig. Mein Zauber nützt bei dem Kleinen nichts. Nur du kannst ihm noch helfen«, antwortet Morgel sorgenvoll.
»Oh ja, ich sehe. Er hat eine große, klaffende Wunde am Bein. Irgendetwas steckt dort noch drinnen«, stellt der Tierarzt fest. »Ich muss schnellstens operieren. Er hat eine Menge Blut verloren. Gut, dass ihr ihn hierher gebracht habt. Das ist wahrlich ein Notfall! Morgel, du musst mir assistieren.«

Lothar darf von außerhalb durch eine große Glasscheibe bei der OP zuschauen. Er fiebert mit dem kleinen Bären mit und hofft, dass alles gut ausgehen mag.

Über zwei Stunden hat die Operation gedauert. Nachdem der Tierarzt die Eisenspitze entfernt und die Wunde fein säuberlich zugenäht hat, bekommt der Bär einen schönen weißen Verband angelegt und eine Spritze gegen die Schmerzen in den Po.

»Fertig!«, ruft der Doktor und bittet Lothar wieder herein.
»Das war knapp«, gibt Morgel freudestrahlend zu verstehen. »Mein lieber Herr Freund hat es geschafft. Dinco lebt!«
»Du warst mir auch eine große Hilfe, mein lieber Herr Morgel«, ist der Doktor voll des Lobes. »Ich verfrachte den Bären jetzt in einen großen Zwinger. Dort darf er erst einmal richtig lange ausschlafen. Das braucht er jetzt.«
»Da bin ich aber froh«, seufzt Lothar.
»Ach übrigens, im Radio kam heute Morgen eine Durchsage, dass ein gefährlicher Bär ausgebrochen sei. Man sucht nach dem Ausreißer«, berichtet der Doktor. »Ich nehme an, die Polizei meint unseren Patienten damit. Ist er allen Ernstes so böse, wie man behauptet?«
»Ich kenne ihn nicht wirklich«, antwortet Morgel. »Nun ja. Wir werden sicher bald erleben können, wie böse er ist, wenn er in der Nacht erwacht.«
»Der ist sicher nicht gefährlich«, fällt Lothar ihm ins Wort. »Dinco ist ein Zirkusbär. Er war lustig und lieb, als ich ihn antraf. Wie ein großes, hilfloses Tierbaby kam er mir vor.«
»Auf jeden Fall bleiben wir heute Nacht hier bei ihm, bis er aufwacht«, bestimmt der Kobold.
»Von mir aus gerne«, stimmt der Doktor zu und schließt die Tür hinter sich.

Morgel und Lothar machen es sich, so gut es geht, vor dem Zwinger bequem und schlafen schnell ein. Sie schnarchen so laut, dass sie nicht bemerken, als Dinco allmählich aufwacht.

Kurze Zeit später ist der Bär auf den Beinen. Er streckt seine Pfote durch die Gitterstäbe und stupst den Fuchs fortwährend an, bis dieser sich endlich rührt. »Hey, Lollar. Schläfst du noch? Hopphopp?«, fragt Dinco flüsternd nach.
»Mrrr, was ist denn los hier?«, murrt Lothar halb verschlafen.
»Hey, Lollar. Wach auf! Hopphopp! Wo sind wir hier?«
»Ach herrje, du bist schon wach. Wie geht es dir?«, möchte der Fuchs wissen.
»Mein Kopf brummt so. Hopphopp! Was ist das für ein ulkiges Männlein, da neben dir?«
»Ach das, das ist der Morgel, der Waldkobold, von dem ich dir erzählt habe. Kannst du dich erinnern? Wir haben dich hierher zum Doktor gebracht und deine Wunde verarztet.«
»Zum Doktor? Hopphopp!«, möchte Dinco wissen. »Was für ein Doktor? Doch nicht etwa der aus meinem Zirkus? Hopphopp!«

Von dem Geplapper der beiden erwacht nun auch der Waldkobold.
»Oooch, uuuch, habe ich tief geschlafen«, murmelt er, streckt alle Glieder von sich und lässt einen lauten Pups dabei.
»Puh! Das stinkt aber. Hopphopp!«, ruft Dinco und hält sich die Nase zu.
»Ihr seid ja schon wach«, ist Morgel erstaunt. »Gestatten, ich heiße Munk Orgu-Telas. Du darfst aber gerne Morgel zu mir sagen. Und wer bist du, wenn ich fragen darf?«
»Ich heiße Dinco und habe Hunger. Gibt es hier nichts zu futtern? Hopphopp!«
»Hopphopp? Das ist aber nicht sehr nett. Wir sind doch nicht deine Dienstboten«, stellt der Kobold empört fest.
»Das meint er nicht boshaft. Das Hopphopp ist so ein Tic von ihm«, beruhigt Lothar.
»Ein Tic? Soso! Sag, bist du ein böser Bär?«, fragt Morgel.
Dinco richtet sich auf, streckt die Brust heraus und brüllt los: »Brröö! Brröö! … Habe ich euch jetzt erschreckt? Hopphopp!«
»Nein, nicht wirklich und dein Hopphopp ist auch nicht gerade Furcht einflößend«, antwortet Morgel. »Na gut, dann ist das ja auch geklärt. Nun holen wir dir erst einmal etwas zu futtern und trinken musst du auch.«

Plötzlich klingelt es an der Tür der Praxis. Der Kobold gibt Dinco mit dem Finger ein Zeichen, dass er ganz leise sein soll. Die drei können hören, wie Doktor Freund mit der Polizei über einen entflohenen Bären spricht.
Der Doktor tut ahnungslos. Er gibt vor, von nichts zu wissen, und verspricht, seine Augen und Ohren offenzuhalten.
Ihm wird in diesem Moment klar, wenn er den Bären jetzt ausliefern würde, muss er den Rest seines Lebens im Zirkus verbringen oder es passiert noch etwas viel Schlimmeres mit ihm. Und genau das will er sich gar nicht erst ausmalen.

Gleich darauf kommt Doktor Freund in den Ruheraum herunter. Er ist sehr erfreut darüber, dass Dinco wohl auf ist und es ihm offensichtlich wieder besser geht.
»Lasst mich raus hier. Bitte!«, fleht der Bär die Drei an. »Ich bin doch ein lieber Dinco. Versprochen! Hopphopp!«
»Also ich bin einverstanden«, stimmt der Kobold zu. »Wir werden ihn mit in die Wurzelhöhle nehmen und dort von unseren vielen Gefährten gesund pflegen lassen.«
»Das wollte ich auch gerade vorschlagen. Bei euch ist er sicher«, stimmt Freund zu. »Ich werde morgen an der Höhle vorbeischauen und den Verband wechseln. Und nun macht euch fort hier, bevor meine Assistentin zur Arbeit kommt und den Bären hier entdeckt.«

Morgel öffnet die Gitterbox und hilft Dinco heraus.
Der kleine Bär fällt dem Tierarzt sogleich um den Hals: »Danke, danke, lieber Doktor. Hopphopp! … Das ist ein schicker Verband. Ich wette, so einen hatte noch kein anderer Bär vor mir hier.«
»Da hast du wohl recht«, stimmt der Doktor zu. »Und demnächst musst du uns unbedingt erzählen, was dir widerfahren ist.«

»Wir müssen los«, ruft Lothar und zerrt an des Bären Arm.
Der Morgel drückt auf sein Tastending und ratzfatz sind alle drei aus der Praxis verschwunden.

Doktor Freund lächelt. Er ist sehr zufrieden mit seiner Arbeit und überglücklich, wieder einem Tier geholfen zu haben.

Ende!

Welche Abenteuer Dinco noch bestehen muss, ob er innerhalb der Gemeinschaft um den Kobold Morgel seinen Platz findet und aus welcher schlimmen, misslichen Lage der Doktor den Kobold seinerzeit befreit hat, sind weitere Geschichten, die sicher irgendwann einmal auch für Dich hier erzählt werden. Bleib voller Neugier!

Kleine Reihe: Zirkuswelt
Fortsetzung in: Morgel und der Möchtegernzauberer
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5 Kommentare:

  1. Toll geschrieben, wirklich klasse!

  2. Super nett. Es fehlt jedoch das WESENTLICHE am Anfang: Wie gemein das Ausnützen, Abrichten der Zirkustiere in der Wirklichkeit abläuft … Kinder sind REALISTEN … müssen auch v. a. darüber Bescheid bekommen. LG J. F.

  3. Peter Wohlwend

    Eine interessante Geschichte.

  4. Sigrid Heidbrede

    Eine kleine spannende Geschichte.

  5. Sehr nett gemacht. 🙂

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