Morgel und das verlotterte Märchenschloss (Teil 9 der Morgelgeschichten)

4.9
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Bildinhalt: Morgelgeschichte 9 - Morgel und das verlotterte Märchenschloss - Das Cover des gleichnahmigen elektronischen Buches - Das Bild zeigt die Fassade des Märchenschlosses Reinhardsbrunn im Mondenschein.

Autor: Jens K. Carl
Illustrator: Jens K. Carl
Altersempfehlung: ab 5 Jahren.

Widmung:
Diese Morgelgeschichte widme ich allen Beteiligten, die an der Enteignung des Schlosses Reinhardsbrunn aktiv mitgewirkt haben.
(2013-2021)

Morgel und das verlotterte Märchenschloss

Es ist ein schöner, warmer Herbstabend. Tief in Gedanken versunken sitzt Morgel, der Waldkobold, am Ufer des Komstkochsteiches auf seinem Lieblingsstein. Hin und wieder lässt er einen Kiesel über die im Abendlicht silbern glänzende Wasseroberfläche des Teiches tanzen.

Dinco, der junge Bär, vernascht am gegenüberliegenden Ufer die letzten an den Sträuchern verbliebenen Waldbeeren. Die Spatzen Fridolin und Sparky spielen Fangen. Mit Karacho flattern die beiden durch das Gestrüpp des Unterholzes. Frosch Emerald quakt die Nachtruhe herbei und die Grillen zirpen um die Wette. Die anderen Gemeinschaftsmitglieder vom Komstkochsteich haben sich wie jeden Abend in alle Himmelsrichtungen verstreut, um entweder spazieren zu gehen oder nach Essbarem zu suchen.

Über den Baumwipfeln leuchten hier und da Blitze auf und erhellen kurzzeitig den Himmel. Wenig später ist dumpfes Donnergrollen zu hören. Ganz in der Nähe tobt sich eine Gewitterzelle aus. Hier am Teich weht nur ein laues Lüftchen. Es lässt das herabfallende Laub tanzend zu Boden rieseln.

Der Waldkobold schwelgt gedanklich in früheren Zeiten, in denen er freudig mit seinem Gefährten Wolfshund Banjo durch die Thüringer Wälder und Flure streifte. Als sie zusammen im altehrwürdigen Kloster zu Reinhardsbrunn den Marktplatz unsicher machten und den Äbten Giselbert und Ernst so manchen Streich spielten. Als sie dem Landgrafen Ludwig dem Eisernen auf der Schauenburg das Fürchten lehrten. Als sie den Zauberer Dracabas aus den Katakomben der alten Wallburg am Baldrichstein vertrieben. Als Banjo den Grünrock Hubertus dazu verfluchte, für immer und ewig im Jagdschloss zu Reinhardsbrunn umherzugeistern. Das war wahrlich ein erquickliches Zeitalter, erinnert sich Morgel.

»Euereiner denkt wieder an Banjo, euereiner treuer Gefährte«, spricht Regina, die Waldfee. »Ich sehe es euereiner Nasenspitze an.«
»Ihr habt recht, meine liebe Fee«, seufzt der Kobold. »Was wird wohl aus ihm geworden sein? Ich habe seit seinem Weggang nichts mehr gehört von ihm. Nun ist er schon so lange fort von hier, um nach seinen Ahnen zu suchen.«
»Unsereiner alle vermissen Banjo«, tröstet ihn die Fee. »Eines Tages wird er sicher wieder hier erscheinen.«

Plötzlich taucht ein Vogel am Horizont auf und fliegt aufgeregt auf die beiden zu. Es ist Gloria I. vom Heßwinkelhof. Eine einfältige, schwatzhafte und diebische Elster, die es vor langer Zeit ins Reinhardsbrunnsche gezogen hat. Die schwarz und weiß Gefiederte ist eitel und hält sich für eine verwunschene Prinzessin. Sie lebt seither standesgemäß im nicht weit entfernten Jagdschloss zu Reinhardsbrunn, um sich unter ihresgleichen, dem Thüringer Hochadel, zu amüsieren.

In einer entlegenen Ecke des Dachbodens richtete sie einst ein prunkvolles Nest für sich her, welches mit purpurfarbenem Samtstoff ausgekleidet ist. Ein mit Brillanten besetzter Handspiegel steht gleich daneben an der Wand, damit sie tagtäglich ihr Antlitz bewundern kann. Über die vielen Jahre hinweg hat Gloria dort allerlei blinkenden und glitzernden Krimskrams gehortet. Goldene Löffelchen, silberfarbene Gäbelchen, Ohrringe, Goldkettchen, ja sogar ein zierliches Diadem, sind darunter. Heutzutage, nachdem sich der Adel verzogen hat, sammelt sie eher Plastikbecher, Pappteller und Holzspieße.

Die Elster ist völlig aus dem Häuschen, denn heute Abend ist ein Unglück geschehen. Ein greller Blitz hat in das Schieferdach ihres Schlosses eingeschlagen und ein riesiges, klaffendes Loch hinterlassen. All das Metall und Plastikzeugs, welches sie mühsam zusammengetragen hat, sind nun zu einem brodelnden Klumpen verschmolzen und mitsamt dem Vogelnest in die Tiefe gerauscht. Hagelkörner und Regen prasseln ungehindert bis in die unteren Etagen des Gemäuers und richten immense Verwüstungen an. Gloria konnte gerade noch so entkommen, um sich vor dem Unheil zu retten und Hilfe zu holen.

»Tschek-tschek-tschek! Schnell, schnell, schnell, edler Fürst des Waldes«, lärmt der Vogel völlig aufgelöst. »Ihr müsst retten mein Nest, meinen Schatz, meinen Palast. Alles kaputt!«
»Atmet erst einmal tief durch, liebe Elster. Nennt mich Morgel. Wie darf ich euch nennen, Werteste?«, fragt der Kobold.
»Prinzessin Gloria I. vom Heßwinkelhof. Und genau so möchte ich auch angesprochen werden«, antwortet die Elster etwas herablassend. »Aber ihr allein dürft mich gerne Gloria nennen, mein Fürst«, fügt sie noch wohlwollend hinzu.
»Nun sprecht geschwind. Was ist denn passiert mit eurem Palast?«, möchte Morgel wissen.
»Tschek-tschek-tschek! Ein Unglück ist geschehen«, antwortet Gloria aufgeregt und streckt ihren Flügel an die Stirn, um so zu tun, als drohe sie gleich in Ohnmacht zu fallen. »Kommt schnell und macht meinen Palast wieder heile.«
»Na gut, wir werden mitkommen und uns euren Palast einmal anschauen. Wo immer das auch sein soll«, spricht der Kobold, springt auf und bittet die Waldfee mit einem Handzeichen, ebenfalls mitzukommen.
Sogleich hält Regina ihren zierlichen, gläsernen Zauberstab gen Himmel und ruft: »Auf, geschwind und ohne Rast, geht es flink zum Märchenpalast!«

Das verfallene Gemäuer

Einen Augenblick später finden sich die drei in einem dunklen, modrig und nach Lehm müffelnden Gemäuer wieder. Regenwasser tropft von der Decke. Hagelkörner knirschen unter ihren Füßen. Es riecht angebrannt. Durch die Holzdielenverschläge an den Fenstern fällt hier und da etwas Licht herein und zeichnet gespenstige Schatten an die Wände, immer dann, wenn draußen ein Blitz den Himmel erleuchtet. Das nachfolgende Donnergrollen lässt das Gebälk erzittern und die zerborstenen Fensterscheiben beängstigend klirren. Die zerfledderten und zerzausten Vorhänge an den hohen Fenstern tanzen im Wind, welcher ohne Unterlass durch alle Ritzen pfeift. Schaurig klopfende und knarrende Geräusche hallen durch die Flure.
Was für ein gruseliger Ort, schießt es dem Kobold durch den Kopf.

»Das ist eher ein Hexenhaus als ein Märchenpalast«, stellt Morgel fest. »Wo hast du uns hingebracht, Elster?«
»Wahrlich, euereiner hat recht. Das Gemäuer macht wenig her. Meinereiner war schon lange nicht mehr an einem solchen Ort«, antwortet ihm Regina. »Gut hundert Jahre nicht. Meinereiner ist sich sicher, dass dies das Märchenschloss zu Reinhardsbrunn sein muss, nur war es früher schmucker eingerichtet. Was ist hier bloß geschehen?«
»Ihr beliebt zu scherzen, meine liebe Waldfee«, ist Morgel erstaunt. »Dies ist nie und nimmer unser Märchenschloss.«
»Lasst meinereiner ein wenig mehr Licht riskieren, dann wird unsereiner es ja sehen«, flüstert die Fee und schleudert mit ihrem Zauberstab funkelnde Leuchtkugeln an die Decke des großen Saales.

Mit einem Male wird das gesamte Ausmaß des Verfalls und der Zerstörung sichtbar. Feuchte und vom Schwamm befallene Wände lassen die Tapeten hinabrollen. In der Decke klafft ein riesiges Loch, wo früher der Kronleuchter hing. Von den prächtigen Deckengemälden sind nur noch Fragmente erkennbar und der Stuck fehlt vielerorts. Die Bodendielen knarren oder wurden teils ganz herausgerissen. Die Fenster sind notdürftig mit Holzdielen verschlagen, nachdem die Scheiben wohl geborsten waren. Müll und Schutt, wohin das Auge reicht.

»Du hast recht. Es ist … es war unser Märchenschloss«, muss der Kobold zugeben. »Welch ein böser Zauber mag über diese schöne Stätte gekommen sein? Welch ein Verfall überall.« Er geht ein paar Schritte durch den Saal. »Eyers-maners-duers, noch einmal! Ist diesen Menschen denn gar nichts heilig? Schau nur, die prunkvollen Deckenmalereien und Wandgemälde, die Kronleuchter. Alles kaputt und zerstört! Dieser Verfall ist nicht allein durch den Blitzeinschlag von heute entstanden. Da muss in der Vergangenheit Schlimmeres passiert sein. Nur was?«
»Lasst unsereiner doch noch die anderen Flügel des Schlosses anschauen«, schlägt Regina vor. »Womöglich sieht es dort besser aus.«

Bildinhalt: Morgelgeschichte 9 - Morgel und das verlotterte Märchenschloss - Das Bild zeigt die Fassade des Märchenschlosses zu Reinhardsbrunn im Mondenschein. Auf einem prachtvollen Roß kommt der Jäger Hubertus angeritten. Ums Eck stehen der majestätisch anmutende Rothirsch Don Pecortus und der Wolfshund Danjo. Gloria I. vom Heßwinkelhof beobachtet von hochoben aus die Geschehnisse.

»Da sagst du was. Dein Wort in Morgels Ohr«, ist der Kobold einverstanden. »Wo ist eigentlich diese Elster hin?«
»Ich bin hier«, ruft Gloria ihnen zu. Völlig verstört hat sie sich in eine entlegene Nische verkrochen, um dort ihrem Klumpen Krimskrams nachzuweinen. »Schaut nur, mein Schatz, mein Nest, alles kaputt. Was soll nun aus mir werden?«
»Das bekommt meinereiner sicher wieder hin«, tröstet sie die Waldfee. »Wartet hier, unsereiner kommen bald zurück.«

Geschwind machen sich die beiden auf, den langen Saal und die Galerien zu besuchen. Überall das gleiche zerstörerische Bild.

»Das ist kein Märchenschloss mehr, das ist eine Schlossruine«, ist Morgel entsetzt. »Was wurden hier früher für Feste gefeiert. Der Glanz, die Pracht. Für ewig vorbei, für ewig vergessen.«
»Dies ist wahrlich ein Jammer«, stimmt Regina zu.
»Zum Glück ist diese schändliche Geweihsammlung aus der Galerie verschwunden. Viele dieser sogenannten Trophäen waren unsere Freunde, wir kannten sie von klein auf«, lässt es im Morgel die Wut hochkochen. »Hier, an dieser Stelle, hing das Geweih von Don Pecortus. Mein treuer Gefährte, ein majestätischer Rothirsch, der aus den iberischen Landen ins Thüringische kam. Fast zwei Meter größer als unsere heimischen Artgenossen und ein Geweih hatte er, so hoch wie ein ausgewachsener Baum. Ein Sechzigender. Über zweihundertfünfzig Jahre durchstreifte er die hiesigen Wälder, bevor er von diesem fürchterlichen Jäger Hubertus erlegt und hier zur Schau gestellt worden war.«
»Warum nur ist Don Pecortus seinerzeit so arg weit nach Süden ins Bayerische gewandert? Zu weit weg, um vom Zauberbann unsereiner Gemeinschaft am Komstkochsteich geschützt zu sein«, ist die Fee traurig, »Das war dann auch sein Ende.«
»Nun ja. Geschehen ist geschehen«, spricht der Kobold. »Lasst uns weitergehen.«

Auch die Amtshäuser sind heruntergekommen und verlassen. Vielerorts wachsen bereits Gras und kleine Bäumchen auf den Fenstersimsen und Balkonen.
In der angrenzenden Schlosskirche sieht es nicht besser aus. Bis auf die Grundmauern entkernt, erschließt sich den beiden das trostlos wirkende Kirchenschiff.
Plötzlich rappelt und fiepst es hinter einem verstaubten Bretterstapel.

»Hallo, welchereiner versteckt sich dort?«, fragt die Fee.
»Ich bin es, Blacky«, antwortet ängstlich ein Waldhase mit schwarz glänzendem Fell, langen Ohren und einem lustigen Stummelschwänzchen. Auf seiner Nase prangt ein weißer Punkt. »Ich bin es nur. Tut mir bitte kein Leid an.«
»Hallo Blacky, wir tun dir nichts, sei beruhigt«, spricht der Kobold. »Schön, dich hier anzutreffen. Wir hoffen, dir geht es gut. Bist du allein?«
»Nein, ist er nicht«, tönt es aus einer Ecke und ein kleiner Ratterich mit geflecktem Fell und einer Nickelbrille auf der Nase tritt aus dem Dunkel hervor. »Ich bin auch noch hier.«
»Lehrer Casemir, mein lieber Herr Casemir. Ich bin so froh, euch zu sehen«, ist Morgel beglückt. »Wie geht es euch? Wenn jetzt der Lehrer Dachs hier wäre, ihr alter Freund und Kollege, er würde vor Freude Luftsprünge machen. Unterrichtet ihr noch?«
»Bis gestern ja, aber nun ist meine Schule abgesoffen«, antwortet Casemir. »Das war es dann wohl. Wo sollen die Tierkinder nun etwas lernen? Welch eine Tragödie.«
»Wie viele Tiere wohnen denn hier im Schloss?«, fragt Regina.
»Oh, nicht wenige. Die meisten haben sich hier versammelt«, spricht Casemir und zeigt auf eine dunkle Ecke des Kirchenschiffes. Große und kleine Mäuse, ein paar Ratten, Igel und Waldhasen treten verängstigt hervor ans Licht. Sogar ein junger Fuchs ist darunter. An der Decke hängen kopfüber einige Fledermäuse und an den Wänden zirpen Spatzen und Schwalben in ihren Nestern. »Alle haben hier, seit die Menschen fort sind, ein zu Hause gefunden.«
»Fehlt irgendjemand?«, möchte Morgel wissen.
»Aber ja, jetzt, wo ihr fragt. Bertis Familie ist nicht anwesend«, antwortet der Ratterich. »Eine sehr nette, kleine Mäusefamilie. Berti wohnt mit Gemahlin Berta und den beiden Mäusekindern Gundi und Mausi in der Decke des Kaminzimmers. Ganz in der Nähe des Nestes der verschrobenen Gloria.«
»Oje, hoffentlich ist ihnen nichts passiert. Die Elster hat uns nämlich um Hilfe gebeten, da ihr Schatz zerstört wurde«, ist Morgel nun besorgt.
»Kommt, ich zeige euch, wo Bertis Familie wohnt«, fordert Casemir die beiden auf und rennt, so schnell er nur kann, vorneweg hinüber ins Hohe Haus.

Unaufhörlich rinnt Regenwasser von der Decke des Kaminzimmers. Gloria sitzt verstört in ihrer Ecke und beweint noch immer den Verlust ihres Krimskrams. Da, wo sich Bertis Mäusewohnung befand, klafft nun ein großes Loch. Zersplitterte Deckenbalken, Lehmklumpen, Stroh und Dielen lugen hervor.

»Berti, Berta!«, ruft Casemir völlig aufgelöst, als er den Schaden betrachtet. »Wo seid ihr alle?«
Eine piepsende Stimme flüstert: »Hier sind wir, Herr Casemir. Wir sind alle wohlauf. Hatschi!« Pitschnass und unterkühlt schauen die vier aus einer Zwischendecke hervor.
»Unsere Wohnung ist völlig im Eimer.«
»Dem Himmel sei Dank, ihr lebt«, freut sich der Ratterich. »Kommt herunter. Ich bringe euch zu den anderen, dort ist es trocken und warm. … Liebe Gloria, ihr solltet auch mitkommen. Hier könnt ihr nicht bleiben, mit eurem nassen Gefieder.«
»Ich kann hier nicht fort«, schimpft die Elster. »Niemand kümmert sich um mich. Wo soll ich nur die Nacht verbringen?«
»Keine Angst, Gloria«, beruhigt Morgel sie. »Wir schauen mal, was wir tun können für dich. Du musst erst einmal zur Ruhe kommen.«

Die wiederentdeckte Pracht

Die acht begeben sich zurück ins Kirchenschiff. Morgel und die Waldfee beratschlagen mit Herrn Casemir darüber, wie sie den Tieren helfen können und auch darüber, wie das Schloss gerettet werden könnte. Da sich die drei kaum noch daran erinnern können, wie alles vor hundert Jahren hier aussah, kommt Regina eine tolle Idee: »Meinereiner kann für ein Weilchen das Gemäuer so erscheinen lassen, wie es damals war, vor dem Verfall. Soll meinereiner dies tun?«
»Ja, mache das. Eine gute Idee!«, stimmt Morgel zu. »Da bin ich mal gespannt, wie das alles so war. Die Frage ist nur, ob und wie uns das in irgendeiner Weise weiterhilft.«
Sogleich macht sich die Fee auf, das Kirchenschiff mehrmals zu umrunden. Dabei schwingt sie ihren Zauberstab heftig im Kreis und raunt einen mächtigen Zauberspruch vor sich hin: »Tausendschön und Mandala, alles ist, wies früher war.«

Mit einem Male wird die Schlosskirche von Hunderten brennenden Kerzen erleuchtet, die in der Mitte des Raumes zu schweben scheinen. Wohlige Wärme macht sich breit. Die Kapelle zeigt sich in ihrer alten, ehrwürdigen Pracht, so wie sie vor langer Zeit einmal aussah, als hier noch Gottesdienste stattfanden. Die aus grau und grün gemustertem Marmor und weißem Alabaster geformte Kanzel, welche mit Kartuschen und Statuetten reich besetzt ist, erstrahlt in neuem Glanze, ebenso wie der Altartisch und das kunstvolle Altargemälde. Der Boden wirkt farbig gefliest. Die Kassettendecke schimmert blau, wie ein Sternenhimmel und wird von roten Säulen getragen. Rechts und links verlaufen reich verzierte Bankreihen. Von den Wänden blicken Statuen auserwählter Menschen herab.

Erstaunt raunen die vielen Tierkinder und lunzen dabei unter den Holzbänken hervor.

Zusammen machen sich die drei auf den Weg, das gesamte Schloss wie neu erscheinen und erleuchten zu lassen. Zuallererst die vielen Zimmer in den Amtshäusern, dann die Säle und die Galerien. Die Wände des Ahnensaales und der Salons erstrahlen in den Farben Grün und Gold. Der Stuck und die Deckenmalereien sehen aus, als wären sie gerade von den alten Meistern erschaffen worden. Die Parkettböden glänzen wie frisch gewienert und laden zum Tanzen ein. Schwere Samtvorhänge verdecken die farbenfrohen Fenster und das filigrane, barocke Mobiliar nimmt anmutig den ganzen Raum ein. Im Kaminzimmer bullert der große Kanonenofen vor sich hin. Das Schloss ist herausgeputzt vom Dach bis hinunter ins Kellergewölbe.

»Das ist ein Eyers-maners-duers wert«, freut sich Morgel und tanzt mit der Waldfee auf der einen und mit Herrn Casemir auf der anderen Hand beschwingt im Saal auf und ab.

Stimmengewirr und Gelächter kommen plötzlich auf. In der Ecke spielen Musiker eines kleinen Orchesters, mit weiß gepuderten Perücken, auf Cello, Cembalo, Fagott, Kontrabass, Laute und Orgel, liebliche Klänge. Auf dem Parkett erscheinen unzählige tanzende Gestalten. Die Damen sind in farbenfrohe, pompöse Kleider aus feinster Seide gehüllt und auf deren Köpfen sitzen ausladende, hochgesteckte Perücken. Die Herren tragen Samtanzüge mit Schärpe und Schleifchen.

Bildinhalt: Morgelgeschichte 9 - Morgel und das verlotterte Märchenschloss - Der Waldkobold Morgel, die Waldfee Regina und Casemir lauschen der barocken Musik und beobachten erstaunt die Tänzerinnen und Tänzer im prachtvollen Ballsaal.

»Ups! Ich werde gar nicht unsichtbar«, staunt Morgel auf einmal. »Die tanzen ja durch uns durch.«
»Welcheeiner sind nicht wahrhaftig«, begegnet Regina. »Alles nur Illusion. Alles ist nur ein Traum. In wenigen Minuten wird das Spektakel vorbei sein und unsereiner sitzen wieder in der gruseligen Ruine.«
»Das ist aber schade«, ist Herr Casemir traurig. »Das ist alles nur Zauberei?«
»Dem ist so«, antwortet die Waldfee.
»Moment einmal, lasst mich mal überlegen«, spricht Morgel, spaziert in die Ecke und setzt sich auf einen dieser Barockstühle. »Autsch! Die sind ja auch nicht echt«, ruft er, als er längelang auf den Boden plumpst. Erzürnt verschränkt er seine Beine zum Schneidersitz und vertieft sich in seine Gedanken, während Regina unentwegt umherfliegt und weitere Räume des Märchenschlosses zum Leben erweckt.

Gut eine Stunde später springt Morgel auf und ruft lauthals heraus: »Heureka! Ich habe es.«
Regina erschrickt und fragt: »Was hat deinereiner?«
Casemir blickt kurz auf. Er war mittlerweile eingenickt.
»Ich glaube, die Lösung gefunden zu haben«, antwortet der Kobold und tanzt singend im Kreis umher. »Ich habe die Lösung, ich habe die Lösung.«
»Nun sprecht schon! Wie lautet deinereiner Lösung und wofür?«, will die Waldfee wissen.
»In Band fünf meiner Zauberbücher glaube ich, einen Spruch gelesen zu haben, mit dem man Dinge zum Leben erwecken kann, die dann Arbeit für einen verrichten«, antwortet der Kobold. »Dies können Dinge sein, wie Besen oder Schrubber, aber auch Äxte, Hämmer, Pinsel, Schaufeln und Spachtel. Wenn ich mich richtig erinnere, eben alles, was als Werkzeug gilt.«
»Deinereiner meint, welcheeiner Dinger helfen uns dann, das verlotterte Gemäuer auf Vordermann zu bringen«, glaubt die Fee zu verstehen.
»Das meine ich damit«, bestätigt Morgel. »Lass mich in die Morgelhöhle zurückkoboldieren, den Zauberspruch heraussuchen und hier am Schloss ausprobieren. Entweder es klappt oder es klappt nicht.«

Gesagt, getan. Morgel drückt sofort die Wurzelhöhlentaste auf seinem Tastending und schwuppdiwupp steht er in seiner Koboldstube und nimmt besagtes Zauberbuch Nummer fünf aus dem Regal. »Irgendwo habe ich doch einen solchen Zauberspruch gelesen«, murmelt er vor sich hin und blättert die Seiten durch. »Ah ja, da steht er, Spruch 234. Die Zahl sollte ich mir merken.«
»Was sollst du dir merken?«, fragt der kleine Hundewelpe Paschinka verschlafen, welcher zusammen mit Hund Antony und dem Rehkitz in der Koboldstube schläft.
»Eyers-maners-duers, erst noch!«, antwortet Morgel. »Du solltest längst schlafen? Morgen musst du wieder zur Waldschule gehen.«
»Also, wenn du Eyers-maners-duers sagst, dann bist du meist in irgendwelche Abenteuer verstrickt«, erwidert Antony, der auch gerade erwacht ist. »Schau nur, dein Umhang ist ganz nass und dreckig. Voller Staub und Spinnweben.«
»Höre ich da was von Abenteuer? Dürfen wir dabei sein?«, fragt das Rehkitz. »Bitte, bitte! Wir machen auch keinen Unfug.«
»Na gut, ihr könnt mir sogar helfen. Stellt euch im Kreis auf«, ist Morgel einverstanden. Er zieht seinen Zauberstab aus dem Umhang und spricht: »Auf geschwind und ohne Rast, geht es flink zum Märchenpalast.«

Kurze Zeit später ist Morgel mit den Dreien zurück in der Schlossruine.

Die verzauberte Baustelle

Ach, sieh an, deinereiner hat Verstärkung mitgebracht«, ist Regina überrascht.
»Oje, wo sind wir denn hier gelandet?«, ist das Rehkitz erstaunt. »Das ist ja voll gruselig.«
»Was machen wir hier?«, möchten Antony und Paschinka wissen.
»Passt alle schön auf. Wir lassen jetzt ein Wunder geschehen. Ich bin gespannt, was gleich passieren wird«, ersucht der Kobold. »Gebt Ruhe!«
»Nun lies schon den Zauberspruch vor«, ist Casemir ungeduldig.
»Gleich, gleich, ich suche noch die Stelle im Buch«, beruhigt ihn Morgel. »Da ist er, Spruch 234.« Besonnen, doch mit lauter Stimme, liest er vor:

»Handwerkzeug und Gerät der Thüringer
seid des Fürsten willens, ihr nützlich Dinger.
Erfüllt den Zweck, der euch gegeben
erweckt jene Hallen zu neuem Leben.
Hölzer, Eisen, Ziegel und Zement
kommt herbei, und dies behänd.
Farben, Stoffe vorzüglicher Pracht
werden bedürft in dieser Nacht!«

Bildinhalt: Morgelgeschichte 9 - Morgel und das verlotterte Märchenschloss - Der Waldkobold Morgel bittet den kleinen Zimmermannshammer Silas Holzkopp einzutreten. Zu Begrüßung des Thüringer Werkzeugdinges sind auch das Rehkitz, die Waldfee Regina, der Hund Antony vom Leinetal und Casemir erschienen. Morgel trägt unter dem Arm das Zauberbuch Nummer vier.

Die Worte verhallen in den Weiten der Schlossflügel. Totenstille herrscht. Nichts rührt sich. Enttäuscht werfen sich die Sechs stumme Blicke zu.
Mit einem Male rappelt es an der großen Pforte des Hohen Hauses. Der Kobold stürzt eilends die Treppe hinunter ins Untergeschoss. Die anderen folgen ihm geschwind. Er öffnet die massive Gitterflügeltür, doch da ist nichts und niemand zu sehen. Ernüchtert, wendet er sich ab.
Plötzlich pocht es sanft an Morgels Schuh. Ein klitzekleiner Zimmermannshammer in Miniausführung, eher ein Spielding mit zwei Kulleraugen, steht auf der Türschwelle. »Ihr habt gerufen, großer Fürst des Waldes«, flüstert der Hammer. »Lasst mich eintreten.«
»Aber gerne doch, tretet näher«, spricht der Kobold, weist dem kleinen Ding den Weg und fragt: »Du bist allein? Hast du einen Namen?«
»Ein Hämmerchen ist besser als kein Hämmerchen«, antwortet dieser. »Einen Namen habe ich auch, mein Herr. Nennt mich Silas Holzkopp. Wo soll ich mit der Arbeit beginnen?«
»Am besten auf dem Dach, Silas, damit es nicht weiter hereinregnet«, weist Morgel ihn an.
»Ganz, wie ihr wollt, großer Fürst des Waldes«, flüstert der kleine Kerl.

Plötzlich ein lauter Pfiff und schon schlägt wie auf Kommando auch der zweite Flügel der ausladenden Gittertür auf und Hunderte dieser Hämmer, allerdings diesmal in passabler Größe, marschieren jubelnd an den Sechsen vorbei ins Schloss. Anschlagwinkel, Bügelsägen, Fuchsschwänze, Handbohrmaschinen, Holzhobel, Schraubenschlüssel, Schraubenzieher, Schraubzwingen, Tausende Holzdübel, Kneifzangen und Stahlnägel, welche wiederum Dachlatten und Holzbalken heranschleppen, reihen sich ein und eilen alsdann Silas nach, die Treppenaufgänge hinauf. Bleistifte, Pergamente, auf denen der Bauplan des Schlossdaches aufgezeichnet ist, Nivelliergeräte, Wasserwaagen, Zirkel und Zollmaßstäbe, folgen im Gleichschritt. Zu guter Letzt rauschen noch Dämmstoffmatten, Dachpapprollen, Dachbleche, Rinnen, edle Schieferplatten und allerhand Kleinkram an ihnen vorbei.

»Puh, da hast du ja ein tolles Treiben entfacht«, staunt Casemir.
»Kommen da noch mehr solchereiner Werkzeugdinger?«, fragt Regina verdutzt nach.
»Das ist doch schon einmal ein guter Anfang«, freut sich Morgel. »Liebe Fee, du solltest Silas nach oben folgen und die Dacharbeiten überwachen, damit alles seinen rechten Gang geht.«
»Das macht meinereiner doch gerne«, ist die Fee entzückt und rauscht davon.
»Ein dichtes Dach bedeutet aber noch kein heiles Schloss«, stellt Morgel fest.

Kaum hat er den Satz ausgesprochen, stolpern Kettensägen, Schaufeln, Stemmeisen, Meißel, Maurerhämmer, Spachtel, Besen, Deckenbürsten und Wassereimer herein und beginnen sogleich mit dem Entkernen und Säubern der Decken, Wände und Böden. Schubkarren bugsieren ohne Umwege all den Unrat und Bauschutt ins Freie. Nagelneue Stromkabel, Wasserleitungen und Abwasserkanäle verlegen sich von selbst im ganzen Haus. Ziegelsteine und Steinplatten türmen sich allerorts auf. Wasserschläuche winden sich in den Fluren und leiten kühles Nass zu den Mörteltrögen, in denen Riesenquirle Sand und Zement vermengen. Unzählige Maurerkellen bessern, wie von Geisterhand geführt, kaputtes Gemäuer aus und Glättkellen verputzen dieses fachkundig.

Inzwischen schreiten die Dacharbeiten voran. Silas, obwohl er so klein ist, treibt die Werkzeuge gehörig an: »Werkzeugkollegen, klotzt richtig ran, zeigt, was in euch steckt. Wir wollen den Fürsten des Waldes doch nicht enttäuschen«, ruft er den anderen zu. »Wir sind hier, um Großes zu leisten.«
»Das macht deinereiner aber wirklich gut«, ist die Fee überrascht. »Deinereiner Dachdeckermeister muss sehr stolz auf deinereiner sein.«
»Der Dachbalken muss links noch etwas angehoben werden. Nivellier und Wasserwaage, passt besser auf!«, warnt Silas. »Meister? Ich habe keinen Meister. Ich lebe in einem Hobbykeller und darf hin und wieder mal an einem Flugzeugmodell herum-hämmern.«
»Aha, und woher weiß deinereiner, wie man ein Dach wie dieses hier repariert«, ist Regina irritiert.
»Ich habe keine Ahnung«, muss der kleine Hammer zugeben. »Mir ist im Moment, als hätte ich nie etwas anderes getan, als Dächer zu decken. Das muss an dem Zauber liegen, der diesem Streben innewohnt.«
»Das kann gut sein«, stimmt die Fee ihm zu. »Weiter so! Dann will meinereiner deinereiner nicht von der Arbeit abhalten«, fügt sie hinzu und beobachtet aus einigen Metern Höhe das gesamte Treiben.

Wie von selbst verlegen sich Dämmplatten und Schutzfolien auf dem neuen Dachgerüst. Dachlatten werden in Sekundenschnelle aufgenagelt und Schieferplatten verlegt.

»Seid ihr fertig?«, fragt Silas nach wenigen Minuten.
»Jawohl, wir sind fertig!«, antworten die Werkzeugdinger im Chor.
»Wir liegen gut in der Zeit«, freut sich der kleine Hammer. »Werte Waldfee, ich möchte hiermit Vollzug der Dacharbeiten melden.«
»Gute Arbeit«, bedankt sich Regina. »Dann machen sich euereiner nun daran und stopft die Löcher in den Zwischendecken.«
»Wird erledigt!«, rufen die Werkzeugdinger abermals im Chor und flitzen sogleich nach unten.

»Das Dach ist fertig«, freut sich die Waldfee, als sie zusammen mit dem Hämmerchen wieder in der Empfangshalle ankommt, »und dicht ist es auch. Da hat seinereiner Silas Holzkopp ganze Arbeit geleistet.«
»Dies nenne ich doch mal Fortschritt am Bau«, ist Casemir entzückt. »Das flutscht ja nur so. Dank auch von uns Schlossbewohnern, lieber Silas.«
»Viel Zeit bleibt uns aber nicht mehr«, entgegnet Morgel, »in drei Stunden geht die Sonne auf. Es ist noch viel zu tun. Ich schlage vor, Antony, Paschinka und das Rehkitz machen sich nützlich und unterstützen die anderen Werkzeugdinger, wo es nur geht, damit wir unseren Zeitplan auch einhalten können«, fordert Morgel die Drei auf.
»Wir sind schon unterwegs«, ruft Antony ihm zu.
»Lasst aber die große Eisentür im Keller geschlossen, falls ihr sie seht«, brüllt Morgel noch hinterher.
»Machen wir«, hallt es durch die Flure.

»Was ist mit der Eisentür?«, fragt Gloria. »Mir ist aufgefallen, dass diese bereits offenstand, als ich vorhin durch den Keller sauste.«
»Wie bitte, ist das wahr?«, erschrickt der Kobold. »Das kann gar nicht sein. Außer der Fee und mir kann kein Fremder diese Tür zum Verlies sehen, geschweige denn öffnen. Das ist ein Albtraum. Die Tür ist seit mehr als hundert Jahre mit einem Zauber belegt, einem Sperrzauber. Kein anderer außer uns kann den Zauberbann brechen.«
»Was war in dem Verlies gewesen?«, hakt Gloria nach.
»Der Geist dieses verfluchten Jägers Hubertus ist darin eingesperrt«, antwortet Morgel. »Er war seinerzeit von Banjo, meinem Wolfshund, wegen Wilderei hier im Schloss mit einem Fluch belegt worden und ist seither dazu verdammt, hier drinnen für alle Zeiten als Geist sein Dasein zu fristen. Und da er bösartig ist, musste er dereinst für immer und ewig weggesperrt werden.«
»Es gibt ihn wirklich?«, ist Casemir erstaunt. »Also stimmen die Gerüchte, dass hier im Schloss ein Gespenst umhergeht.«
»Einen Geist gibt es hier«, bestätigt Morgel, »umher-geistern durfte er bisher jedoch nicht.«
»Dann los, last unsereiner auf Geisterjagd gehen«, freut sich die Fee. »Mit Geistern kennt meinereiner sich aus.«

»Stopp, Stopp, Stopp! Erst ist zu klären, welches Gewerk noch ausgeführt werden muss, ansonsten werden wir womöglich nicht fertig bis Sonnenaufgang«, ruft der Kobold. »Also, wir brauchen eine Heizung, hier ist es saukalt. Eine Kochstelle natürlich auch, Toiletten und Bäder. Wir sollten alles malern und tapezieren lassen. Der Stuck muss erneuert werden, auch die Deckenmalereien und Wandgemälde. Zeitgemäße Türen und Fenster sind vonnöten, technisch auf dem neuesten Stand natürlich und einbruchsicher. Parkett, Parkett brauchen wir und Teppiche und Bodenfliesen von großer Zahl. Vorhänge und antike Möbel, alles stilecht, versteht sich. … Puh, da ist noch eine Menge zu tun.«
»Ist deinereiner fertig?«, fragt Regina ungeduldig.
»Jetzt bin ich so weit«, antwortet Morgel. »Nun können wir auf die Suche nach dem Geist gehen.«

Hundewelpe Paschinka trifft derweil während seines Streifzugs durch die Schlossgänge auf eine kleine dreieckige Maurerkelle und einen verbeulten Mörteleimer, die zusammen gerade winzige Ritze im Putz ausbessern.

»Was streunst du hier so herum?«, fragt die Dreieckskelle. »Hast du nichts zu tun?«
»Der Boss schickt mich. Ich soll aufpassen, dass du keinen Unfug treibst«, spricht Paschinka in einem etwas kecken Ton. »Hier sind aber noch kleine Ritzen offen. Da musst du noch mal drüber gehen.«
»Man kann es auch übertreiben«, mischt sich der Mörteleimer ein. »Es ist ein altes Schloss. Hast du überhaupt Ahnung davon?«
»Na hör mal, ich gehöre zum Morgel, dann hat man von allem Ahnung«, trumpft der kleine Hund auf. »Immerhin gehe ich bald in die zweite Klasse der Waldschule.«
»Soso, du Witzbold«, ist die Maurerkelle erstaunt. »Ich habe vor vielen Jahren beim großen Meister Vocke gelernt und an so manchem historischen Bauwerk mit geschuftet. Hand drauf, so war ich Almut Kellchen heiße.«
»Ich kann das beschwören. Ich war immer mit dabei«, stimmt der Eimer zu. »Gestatten, Benno Blechnapf.«
»Almut und Benno, ihr seid ja lustig«, feigst Paschinka. »Und was ist das für eine Pampe da in dir drinnen?«
»Das nennt man Mörtel«, spricht Almut und schnippt ungeniert mit einem kleinen Klumpen, der auf Paschinkas Nase landet. »Haha, Volltreffer.«
»Na warte, das kann ich auch«, erschrickt sich der Welpe und nimmt Anlauf, um Benno einen Schubs zu verpassen.
»Na aber, mein lieber Paschinka«, ist Hund Antony erstaunt, der gerade der Wendeltreppe heruntergeeilt kommt. »Macht man denn so etwas?«
»Die haben angefangen, mit Mörtel zu werfen«, wehrt er sich.
»Jetzt habt ihr euren Spaß gehabt«, geht Antony dazwischen. »Wir wollen doch bald fertig werden. Also klotzt noch einmal richtig ran.«

Die pfiffige Gespensterjagd

Während die Werkzeuge der Bodenleger, Heizungsbauer, Klempner, Maler und Tischler ins Schloss stürmen und sich an die Arbeit machen, flitzen Morgel und die Fee von Salon zu Salon und von Zimmer zu Zimmer. Raus gerissene Kabel, undichte Wasserleitungen, umgestoßene Mörteleimer, sogar kaputt getrampelte Werkzeugdinger finden die beiden vielerorts vor.

»Seinereiner Geist war hier. Er will unsereiner Arbeit zunichtemachen«, stellt Regina fest. »Dort ist seinereiner, auf dem Absatz der Kellertreppe. Schau!«
»Hahaha!«, lacht Hubertus lauthals los. »Ihr kriegt mich nicht. Jetzt bin ich frei! Endlich frei!«, dröhnt es durch das Kellergewölbe. Noch immer steckt er wie damals in seiner Jägeruniform mit Hut und Feder.

Morgel und die Fee halten sich die Ohren zu. Unversehens rauscht den beiden eine atemraubende, miefige Staubwolke entgegen. Ihnen bleibt die Luft weg. Als die Wolke sich legt, ist der Geist verschwunden.

»Hrr-Hmm! Hrr-Hmm!«, muss Morgel husten. »Hubertus kann aus diesen Mauern nicht entkommen. Er ist hier im Schloss gefangen. Es macht also keinen Sinn, ihm nachzujagen. Der taucht wieder auf. Hrr-Hmm!«
»Unsereiner müsste seinereiner mit etwas locken, überlisten«, ist Regina überzeugt. »Seinereiner eine Falle stellen.«
»Mich interessiert eher, wer den Sperrzauber überwinden konnte und das unsichtbare Eisengatter geöffnet hat«, ist der Kobold neugierig und rennt die Treppe hinunter in den Keller. Regina folgt ihm.

Vor der schweren Eisentür zum Verlies finden die beiden ein kraftstrotzendes, durchtrainiertes Brecheisen vor, welches allerdings mit einem Seil an eine der Steinsäulen gefesselt ist.

»Helft mir! Bitte helft mir doch!«, ruft es. »Ich bin der Egon, der Egon Kuhfuß. Man hat mich hereingelegt, wenn ich diesen Kerl bloß erwische.«
»Hast du diese Tür geöffnet, Egon Kuhfuß?«, möchte Morgel wissen, bevor er anfängt, ihn loszubinden.
»Ja! Eine Stimme im Inneren hat mich angefleht, sie zu befreien. Sie wäre in Not. Das habe ich dann auch getan«, weiß Egon zu berichten.
»Wie ist das möglich? Da lag ein Sperrzauber auf dem Verlies«, ist der Kobold irritiert. »Du hättest es weder sehen, geschweige denn noch etwas daraus hören dürfen. Nur wenige wissen, dass es dieses Verlies überhaupt gibt.«
»Ihr, großer Fürst des Waldes, habt uns Werkzeuge gerufen und so jedes Einzelne von uns mit einem Teil eurer Zauberkraft versehen. … Es ist nun mal meine Aufgabe, eine solche Tür zu überwinden, egal, ob sie aus Pappe, Eisen oder verzaubert ist. Ich bin eine Brechstange.«

Bildinhalt: Morgelgeschichte 9 - Morgel und das verlotterte Märchenschloss - Der Waldkobold Morgel und die Waldfee Regina ertappen vor der Tür des Gefängnisraumes eine Brechstange dabei, wie sie die unsichtbare Tür zum Verlies mit brachialer Gewalt öffnet. Es ist Egon Kuhfuß.

»Wohl wahr, daran habe ich nicht gedacht. Aber diese Tür ist total verbogen«, kritisiert der Kobold Egon. »Sie klemmt und die Scharniere sind herausgerissen. Alle zehn Riegelschlösser sind kaputt. Das ist nur noch Schrott. Ging dies nicht sorgsamer?«
»Das war mein erster Bruch. Tut mir leid, aber ich bin bisher von einem Lehrling eingearbeitet worden«, wehrt sich das Brecheisen. »Beim nächsten Mal mache ich es besser. Versprochen!«
»Nun gut, es ist ja noch kein Meister vom Himmel gefallen. Dann bringe ich das schnell mal in Ordnung«, ist Morgel beruhigt und sagt seinen Zauberspruch auf: »Hammerschlag und Eisenfeile, dieses Teil ist wieder heile!«.

Das Türblatt richtet sich auf und rastet von selbst in die Scharniereisen ein.

»Gehe nun zu deinereiner Werkzeugkollegen hinauf«, fordert die Fee Egon auf, »und helfe, wo deinereiner kann.«
»Das mache ich. Verzeiht mir, großer Fürst, liebe Fee«, spricht das Brecheisen und stolpert erleichtert davon.

Morgel und Regina schauen sich um. Das Kellergewölbe sieht aus, als wäre es gerade von den großen Meistern ihrer Zeit errichtet worden. Jahrhundertealte Steine sitzen makellos übereinander. Fugen für Fugen schließen die Reihen. Die Böden glänzen, wie frisch lackiert, im ersten Dämmerlicht des Tages, welches durch die bleiverglasten Fenster dringt.

Die Speisekammern sind prall gefüllt, mit Vorräten aller Art. Im Weinkeller nebenan ordnet sich Fass an Fass und Flasche an Flasche. Ein lieblich, süßer Geruch breitet sich darin aus. Gleich dahinter schließt sich eine große Gesindestube an und daran eine mittelalterlich eingerichtete Schlossküche. Die steinernen Regale sind vollgestopft mit feinstem Meißner Porzellan, Unmengen an Gebrauchskeramik und über der Kochstelle, einem übergroßen Kamin, hängen in Reih und Glied eiserne Bratpfannen und kupfern glänzende Kochtöpfe. Aus dem Gewürzregal drängt sich ein orientalisch anmutender Duft auf.

Bildinhalt: Morgelgeschichte 9 - Morgel und das verlotterte Märchenschloss - Die Waldfee Regina bereitet in einem großen Eisentrog Pflaumenmuss zu und backt im Steinofen frisches Brot. Die mittelalterlich anmutende Schlossküche ist mit allerlei Utensilien ausgestattet.

»Sagtest du vorhin locken, ihn überlisten? … Mmh, mal überlegen, wenn ich mich richtig erinnere, fuhr dieser fürchterliche Hubertus seinerzeit voll auf warm duftendes Pflaumenmus ab«, ist sich Morgel sicher, »und er liebte dazu frisch gebackenes Graubrot.«
»Kein Problem«, sagt Regina, »das braut meinereiner fix in der Schlossküche zusammen. So kriegen wir seinereiner.«

Kaum hat sie ausgesprochen, legt sie auch schon los. Als Erstes entfacht die Fee mit ihrem Zauberstab in dem großen Kamin ein Feuerchen aus Reisig und Holzscheiten und heizt dann dem steinernen Backofen gehörig ein. Als Nächstes füllt sie kiloweise entkernte Pflaumen, die sie in der üppig gefüllten Speisekammer gefunden hat, in den gusseisernen Trog. Fügt verschiedene Gewürze, wie Anis, Ingwer, Nelken, Sternanis, Zimt und Zitronenschalen hinzu und lässt alles brodelnd aufkochen.
Wie von Geisterhand geführt haben zwischenzeitlich zwei Bäckerfäustlinge damit begonnen, die Zutaten für den Brotteig zu vermengen, um ihn anschließend wie wild zu kneten. Den fertigen Leib schiebt ein flinker Brotschieber auf die warmen Schamottesteine im Inneren des Steinofens.
Nach gut einer Stunde ist alles fertig. Ein betörender Duft aus süßem Pflaumenmus und knusprig krossem Brot breitet sich im gesamten Schloss aus.
Zwei frisch mit Mus bestrichene Scheiben lässt Regina auf einem Teller bereitstellen und versteckt sich sogleich hinter einem großen Kupferkessel.

»Mmh!«, streckt Casemir seine Nase in die Küche. »So köstlich hat es hier im Schloss schon lange nicht mehr geschnuppert. Ich bin wie im Rausch.«
»Da muss ich dem Herrn Ratterich doch mal recht geben«, stimmt Gloria ihm zu, die sich ebenfalls von dem Lärm aus der Schlossküche angelockt fühlt. »Och, aber wie entzückend das blinkt und blitzt hier drinnen. Schaut nur, die schmucken Löffelchen. Da kann ich mich ja darin sehen.«
»Die Löffel und auch alles andere bleiben hier«, ermahnt Morgel die Elster. »Versteckt euch! Wir sind hier, um einen Geist … Pssst, er ist da.«

Mit einem Mal wird der betörende Duft der Speisen von ekelerregendem Gestank überlagert. Gloria hält sich den Schnabel zu und schlüpft vor Furcht in eine Suppenterrine, um nicht gesehen zu werden. Casemir verkriecht sich lautlos unter dem massiven Küchentisch. Der Raum verdunkelt sich.

»Was für ein betörender Duft mir hier in die Nase steigt«, flüstert Hubertus vor sich hin. »Ist das für mich?«, fragt er und stürzt sich blindlings auf den Teller und stopft sich die Brote in die Gusche. »Mmh ist das köstlich!«, murmelt er mit vollem Mund, sodass man ihn kaum verstehen kann.
»Das war es, Hubertus!«, ruft Morgel. »Nun wirst du wieder dorthin zurückkehren, wo du hingehörst.«
»Krrrrr!«, knurrt der Geist, als er bemerkt, dass er in eine Falle getappt ist. »Oooch, du bist es wieder, du kleiner Wurzelkobold! Du glaubst wohl, du machst mir Angst. Wo ist dein Freund, der Wolf? Banjo hieß er, oder? … Komm und erlöse mich von diesem Fluch, damit ich meine Ruhe finden kann. Jeeetzt!«
»Ich kann den Fluch nicht von dir nehmen, das kann nur Banjo selbst«, erwidert Morgel. »Aber der ist nicht hier. Daher kehre zurück in das Loch, aus dem du gekrochen bist.«

Der Kobold und die Waldfee nehmen, ohne zu zögern, ihre Zauberstäbe zur Hand und schleudern zwei kraftvolle Blitze in Richtung des Geistes. Dieser bekommt einen mächtigen Stoß, sodass er durch die offene Eisentür zurück in das dunkle Loch geschleudert wird. Die Tür fällt zu und ein Riegelschloss nach dem anderen rastet ein.
Morgel erneuert sogleich den Sperrzauber, damit das Verlies für alle Zeiten verschlossen bleibt: »Ärgernis und Nörgelei, drinnen verweilst, kommst nicht mehr frei! Sollst für ewig darin bleiben, keinen Unfug im Diesseits treiben!«.
Allmählich verblasst die Tür mit den zehn Riegelschlössern, bis sie nicht mehr zu sehen ist.

»Das war es. Die Gefahr ist gebannt. Lasst uns nun wieder den Bauarbeiten zuwenden«, schlägt Morgel vor. »Die Werkzeuggeister haben hier unten im Keller ganze Arbeit geleistet. Mein Lob! Alles ist bereits fertig. Einfach toll!«
Regina dreht noch fix eine Runde durch die Schlossküche und lässt mit ihrem Zauberstab das gebrauchte Geschirr und die Töpfe säubern und wieder an ihren Platz zurückwandern. Gloria schnappt sich unbemerkt noch schnell eine kleine Kuchengabel und fliegt eilig davon.

Das prachtvolle Märchenschloss

Auf dem Weg nach oben inspizieren Regina, Morgel und Casemir jedes noch so kleine Zimmerchen, die Toiletten, die Bäder und Flure, die Galerien, Salons und Säle. Hier und da kehren Besen den letzten Bauschutt zusammen und Schaufeln verladen diesen auf die Schubkarren. Unzählige Mopps schwingen tanzend hin und her und wischen nebelfeucht nach. Im Ahnensaal bessern kleinen Pinsel noch winzige Fehler an den Wandgemälden aus. Das gesamte Märchenschloss glänzt vom Kerker bis unters Dach, so, als wäre es gerade schlüsselfertig errichtet worden. Überall duftet es nach frischer Farbe. In den Kaminen und Öfen prasseln die Feuer. Wohlige Wärme macht sich breit. Nadeln und Scheren setzen an den pompösen Vorhängen vor den neuen Fenstern flink letzte Stiche.

Im Kaminzimmer gibt es Tumult. Während das Rehkitz die grau gepolsterte barocke Sitzbank zusammen mit einem kleinen Tischchen wieder und wieder in die Mitte des Zimmers schiebt, schimpft es: »Ich möchte, dass du hier stehst, direkt unter dem Kronleuchter.«

Jedoch rutschen beide Möbelstücke unentwegt an die Wand zurück, so, als wären sie an einem Gummiband befestigt.

»Aber, aber, ihr werdet doch nicht streiten«, ruft Morgel das Kitz zur Ordnung. »Schau nur, du zerkratzt das schöne neue Parkett mit deinen Hufen. … Wenn ich mich richtig erinnere, stand die Bank schon damals direkt unter dem Bildnis mit der musizierenden Frau und den zwei Kindern. Wir sollten beides dort belassen.«
»Aber in unserer Koboldstube steht der Tisch auch unterhalb der Lampe«, erwidert das Kitz.
»Da hast du recht, wir arbeiten und essen auch daran, da braucht man eben viel Licht«, entgegnet der Kobold. »Doch das muss ja nicht immer so sein. Hier ist es anders. An diesem Tischchen arbeitet oder isst niemand.«
»Wozu brauchen die Menschen denn so viele Möbel, wozu überhaupt so viele Zimmer?«, ist das Rehkitz irritiert. »Wenn hier keiner isst und wohnt, warum ziehen wir nicht hier ein? So viele Tierkinder könnten in dieser bunten Höhle aus Stein wohnen und bei Herrn Casemir und Lehrer Dachs zur Schule gehen.«
»Jedem Tierchen, sein Pläsierchen!«, antwortet Morgel. »Die Menschen möchten eben in so einem Haus leben, wie hier und die Tiere leben im Wald, dort, wo sie hingehören. Früher lebten viele Tiere hier im Schloss, Pferde, Hunde, Katzen, Vögel. Die meisten davon waren in Käfigen oder Zwingern gefangen und sehr unglücklich oder krank.«
»Also eingesperrt möchte ich aber nicht sein«, spricht das Kitz. »Dann bleibe ich doch lieber im Wald bei meinen Freunden … sind wir nun fertig hier? Ich möchte endlich wieder zurück an den Komstkochsteich.«
»Schaut nur, die Sonne geht auf«, stellt der Kobold fest, während er einen der neuen Barockstühle ausprobiert. »Sehr bequem, gute Verarbeitung.«
»Wir sollten dieseeiner Werkzeugdinger wieder entlassen und nach Hause schicken«, spricht Regina. »Der Zauber hat ein Ende. Das Werk ist vollbracht.«
»Silas Holzkopp, das kleine Zimmermannshämmerchen, hat die Werkzeuggeister antreten lassen«, weiß Casemir zu berichten. »Die warten schon alle in der Empfangshalle auf uns.«

Von Weitem ist frenetisches Stampfen zu hören. Nach Gewerk geordnet, in Reih und Glied, Seite an Seite stehend, sind die unzähligen Werkzeuge, Maschinen und Geräte angetreten. Der Stolz, an diesem großartigen Bauwerk mitgewirkt zu haben, ist ihnen anzusehen.

»Alle Werkzeuge sind vollzählig zum Appell versammelt«, meldet der kleine Hammer, als die vier unten ankommen. »Es war uns eine Ehre, dem Fürsten des Waldes Munk Orgu-Telas und der lieblichen Waldfee Regina gedient zu haben.«
»Ihr alle habt Großes vollbracht. Eine wahrlich meisterliche Arbeit wurde getan, so wie ich es von echtem Thüringer Handwerkszeug erwarten durfte«, ruft der Waldkobold den Umstehenden laut zu. »Ich danke euch!«
»Auch meinereiner dankt euereiner von Herzen. Ihr habt gezeigt, was in euereiner steckt, zu welchen Leistungen euereiner Handwerksmeister euereiner befähigt haben«, fügt die Waldfee hinzu. »Kommt euereiner gut nach Hause.«
Auch Casemir hat etwas zu sagen: »Ich spreche im Namen aller tierischen Bewohner dieses Märchenschlosses. Ihr habt unser Heim gerettet. Vor wenigen Stunden dachten wir noch, alles sei verloren. Euch allen gebührt unser Dank.«
»Bevor ihr nun geht, hört noch Teil zwei des Zauberspruches 234 an. Er wird euch aus meinen magischen Diensten entlassen«, fordert Morgel. Ruhe kehrt ein. Er öffnet das große Zauberbuch und liest laut vor:

»Dank gebührt euch, ihr Werkzeuggeister,
gehet nun, euer Gewerk ist für heut vollbracht.
Kehret heim zu euer Handwerksmeister,
dient ihnen stets mit Freud und Bedacht!«

Jubel bricht los. Tosender Beifall, Geklapper und dumpfes Stampfen, lässt die ehrwürdigen Mauern des Märchenschlosses erzittern. Etwas Putz rieselt von der Decke und hüllt die Massen in eine dünne Staubwolke.
Als der Hall allmählich verklingt und der Staub sich nach und nach gelegt hat, sind jählings alle Werkzeuge, Maschinen und Baustoffe verschwunden.

»Ihr müsst euch unsere neue Mäusewohnung anschauen«, ist Mäusedame Berta ganz aufgeregt. »Im Kaminzimmer, gleich oberhalb des Kanonenofens. Es ist wohlig warm und nun haben wir auch einen direkten Zugang zur Schlossküche erhalten. Süperb!«
»Ja, und Gundi und Mausi haben jetzt jede eine eigene Mäusekuhle«, freut sich Berti. »Endlich kein Streit mehr in der Mäusestube.«
»Das ist doch noch gar nichts«, winkt Gloria ab, die nun wieder überglücklich ist. »Ihr müsst euch mein prachtvolles Nest anschauen. Alles aus feinstem Samt und Marmor. Einen kristallenen Wandspiegel hat man mir auch installiert, sogar mit Licht.«
»Was ist aus euereiner Krimskrams geworden?«, fragt Regina neugierig.
»Ihr glaubt es kaum, den zusammengeschmolzenen Klumpen hat mir der freundliche Flaschenzug auf den Dachboden gehievt«, berichtet Gloria stolz. »Der wollte nicht einmal etwas dafür haben.«
»Wenn deinereiner es möchte, kann meinereiner den Klumpen wieder in seine Einzelteile zurück zaubern«, bietet die Waldfee an.
»Ist das möglich?«, fragt die Elster entzückt. »Dann lass uns gleich nach oben fliegen. Nun wird doch noch alles gut.«

»Und was ist mit euch, Herr Casemir«, möchte Morgel wissen, »habt ihr eure Schulstube retten können?«
»Ich bin zufrieden«, antwortet der Ratterich. »Ab sofort kann ich den Unterricht für die Tierkinder wieder aufnehmen. Die freuen sich schon darauf, in den neuen Schulbänken Platz nehmen zu dürfen. Eine große Schultafel steht uns nun auch zur Verfügung.«

»Wir müssen nun Abschied nehmen und das Märchenschloss seiner Bestimmung überlassen. Bleibt zu hoffen, dass die Menschen dessen Bedeutsamkeit erkennen, unsere Taten würdigen und diese edle Stätte für ewige Zeiten erhalten«, spricht Morgel in die Runde. »Seid ihr alle da? Antony, Paschinka, Rehkitz und Regina, kein Wort darüber zu anderen, was diese Nacht hier geschehen ist. Das bleibt unser Geheimnis.«
»Darf ich auch mitkommen?«, fragt Blacky, der Waldhase. »Ich wollte schon immer an euren Teich umsiedeln.«
»Sicher kannst du mit«, antwortet Morgel. »Fasst euch alle an und ab die Post.«
»Da kommt jemand«, stupst Regina ihn an.
»Nichts wie weg hier«, drängt der Kobold, schwingt seinen Zauberstab und sagt schnell seinen Spruch auf: »Ohne Umwege und sogleich, gehts zurück zum Komstkochsteich!«

Sekunden später sitzen die sechs am Ufer des Teiches und genießen die Morgensonne.

»Wo wart ihr gewesen?«, fragt Schröder, der Waldkauz nach. »Lehrer Dachs und ich wollten gerade einen Suchtrupp zusammenstellen und losschicken.«
»Och, hier und da«, antwortet Antony beiläufig, »hier und da.«

Am Tag darauf herrscht Wirbel am Frühstückstisch in der Wurzelhöhle. Flocke, die Posttaube vom Morgelwaldpostamt, hat einige druckfrische Zeitungsfetzen mitgebracht. Die Schlagzeilen auf der ersten Seite stechen allen sofort ins Auge: „Sensationell! Heinzelmännchen bringen Märchenschloss über Nacht auf Vordermann“ oder „Unbekannte haben Schloss Reinhardsbrunn in Rekordzeit restauriert“.

Ende!

Ob das Märchenschloss zu Reinhardsbrunn tatsächlich einmal wieder im altehrwürdigen Glanze erscheint, bleibt abzuwarten. Drücken wir den Menschen die Daumen und wünschen wir Ihnen viel Glück.

Ob allerdings der Geist Hubertus seine Erlösung findet und ob wir das fleißige Thüringer Handwerkszeug nochmals bei der Arbeit erleben dürfen, erfährst Du sicher irgendwann einmal in einer der nächsten Morgelgeschichten, wenn diese hier für dich erzählt werden. Bleib voller Neugier!

Erfahre mehr über die Figuren, Dinge und Orte in den Morgelgeschichten.
Erfahre mehr über den Autor und Illustrator der Morgelgeschichten.

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3 Kommentare:

  1. Bert G. P. Tönnies

    „Morgel und das verlotterte Märchenschloss“ von Jens K. Carl ist ein fesselndes Werk, das die Leser in die märchenhafte Welt des Thüringer Waldes entführt. Die Geschichte dreht sich um das Jagdschloss zu Reinhardsbrunn, eine sagenumwobene Ruine, die einst auf den Mauern eines Benediktinerklosters errichtet wurde. Morgel und seine Freunde sind bestürzt über den Verfall des Schlosses und nehmen es sich zur Aufgabe, die ehrwürdigen Mauern zu neuem Glanz zu verhelfen1.

    Der Schreibstil von Carl ist lebendig und bildhaft, was die Magie der Handlung unterstreicht. Er nutzt eine Sprache, die sowohl Kinder als auch Erwachsene anspricht, und schafft es, die Leser mit den Abenteuern von Morgel und seinen Freunden zu fesseln. Die Geschichte ist mit vier märchenhaften Schattenrissen illustriert, die die Atmosphäre des Buches bereichern und die Fantasie anregen1.

    Insgesamt bietet „Morgel und das verlotterte Märchenschloss“ eine spannende und herzerwärmende Lektüre, die nicht nur unterhält, sondern auch zum Nachdenken über den Erhalt historischer Stätten anregt.

  2. Bezaubernde Morgelgeschichten, wunderschön und mit viel Liebe geschrieben.
    Wenn man zwischendurch Mal kurz die Augen schließt, fühlt man sich eins mit der Geschichte, der Zeit und den Figuren. 🌞🌞🌞🌞🌞

  3. Bezaubernd und sehr liebevoll geschrieben. Ich konnte sofort eintauchen und war ganz mit dabei!

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