Autor: Jens K. Carl
Illustrator: Jens K. Carl
Altersempfehlung: ab 5 Jahren.
Diese Morgelgeschichte widme ich allen Beteiligten, die an der Enteignung des Schlosses Reinhardsbrunn aktiv mitgewirkt haben.
(2013-2021)
Morgel und das verlotterte MärchenschlossEs ist ein schöner, warmer Herbstabend. Tief in Gedanken versunken sitzt Morgel, der Waldkobold, am Ufer des Komstkochsteiches auf seinem Lieblingsstein. Hin und wieder lässt er einen Kiesel über die im Abendlicht silbern glänzende Wasseroberfläche des Teiches tanzen. Dinco, der junge Bär, vernascht am gegenüberliegenden Ufer die letzten an den Sträuchern verbliebenen Waldbeeren. Die Spatzen Fridolin und Sparky spielen Fangen. Mit Karacho flattern die beiden durch das Gestrüpp des Unterholzes. Frosch Emerald quakt die Nachtruhe herbei und die Grillen zirpen um die Wette. Die anderen Gemeinschaftsmitglieder vom Komstkochsteich haben sich wie jeden Abend in alle Himmelsrichtungen verstreut, um entweder spazieren zu gehen oder nach Essbarem zu suchen. Über den Baumwipfeln leuchten hier und da Blitze auf und erhellen kurzzeitig den Himmel. Wenig später ist dumpfes Donnergrollen zu hören. Ganz in der Nähe tobt sich eine Gewitterzelle aus. Hier am Teich weht nur ein laues Lüftchen. Es lässt das herabfallende Laub tanzend zu Boden rieseln. Der Waldkobold schwelgt gedanklich in früheren Zeiten, in denen er freudig mit seinem Gefährten Wolfshund Banjo durch die Thüringer Wälder und Flure streifte. Als sie zusammen im altehrwürdigen Kloster zu Reinhardsbrunn den Marktplatz unsicher machten und den Äbten Giselbert und Ernst so manchen Streich spielten. Als sie dem Landgrafen Ludwig dem Eisernen auf der Schauenburg das Fürchten lehrten. Als sie den Zauberer Dracabas aus den Katakomben der alten Wallburg am Baldrichstein vertrieben. Als Banjo den Grünrock Hubertus dazu verfluchte, für immer und ewig im Jagdschloss zu Reinhardsbrunn umherzugeistern. Das war wahrlich ein erquickliches Zeitalter, erinnert sich Morgel. »Euereiner denkt wieder an Banjo, euereiner treuer Gefährte«, spricht Regina, die Waldfee. »Ich sehe es euereiner Nasenspitze an.« Plötzlich taucht ein Vogel am Horizont auf und fliegt aufgeregt auf die beiden zu. Es ist Gloria I. vom Heßwinkelhof. Eine einfältige, schwatzhafte und diebische Elster, die es vor langer Zeit ins Reinhardsbrunnsche gezogen hat. Die schwarz und weiß Gefiederte ist eitel und hält sich für eine verwunschene Prinzessin. Sie lebt seither standesgemäß im nicht weit entfernten Jagdschloss zu Reinhardsbrunn, um sich unter ihresgleichen, dem Thüringer Hochadel, zu amüsieren. In einer entlegenen Ecke des Dachbodens richtete sie einst ein prunkvolles Nest für sich her, welches mit purpurfarbenem Samtstoff ausgekleidet ist. Ein mit Brillanten besetzter Handspiegel steht gleich daneben an der Wand, damit sie tagtäglich ihr Antlitz bewundern kann. Über die vielen Jahre hinweg hat Gloria dort allerlei blinkenden und glitzernden Krimskrams gehortet. Goldene Löffelchen, silberfarbene Gäbelchen, Ohrringe, Goldkettchen, ja sogar ein zierliches Diadem, sind darunter. Heutzutage, nachdem sich der Adel verzogen hat, sammelt sie eher Plastikbecher, Pappteller und Holzspieße. Die Elster ist völlig aus dem Häuschen, denn heute Abend ist ein Unglück geschehen. Ein greller Blitz hat in das Schieferdach ihres Schlosses eingeschlagen und ein riesiges, klaffendes Loch hinterlassen. All das Metall und Plastikzeugs, welches sie mühsam zusammengetragen hat, sind nun zu einem brodelnden Klumpen verschmolzen und mitsamt dem Vogelnest in die Tiefe gerauscht. Hagelkörner und Regen prasseln ungehindert bis in die unteren Etagen des Gemäuers und richten immense Verwüstungen an. Gloria konnte gerade noch so entkommen, um sich vor dem Unheil zu retten und Hilfe zu holen. »Tschek-tschek-tschek! Schnell, schnell, schnell, edler Fürst des Waldes«, lärmt der Vogel völlig aufgelöst. »Ihr müsst retten mein Nest, meinen Schatz, meinen Palast. Alles kaputt!« Das verfallene GemäuerEinen Augenblick später finden sich die drei in einem dunklen, modrig und nach Lehm müffelnden Gemäuer wieder. Regenwasser tropft von der Decke. Hagelkörner knirschen unter ihren Füßen. Es riecht angebrannt. Durch die Holzdielenverschläge an den Fenstern fällt hier und da etwas Licht herein und zeichnet gespenstige Schatten an die Wände, immer dann, wenn draußen ein Blitz den Himmel erleuchtet. Das nachfolgende Donnergrollen lässt das Gebälk erzittern und die zerborstenen Fensterscheiben beängstigend klirren. Die zerfledderten und zerzausten Vorhänge an den hohen Fenstern tanzen im Wind, welcher ohne Unterlass durch alle Ritzen pfeift. Schaurig klopfende und knarrende Geräusche hallen durch die Flure. »Das ist eher ein Hexenhaus als ein Märchenpalast«, stellt Morgel fest. »Wo hast du uns hingebracht, Elster?« Mit einem Male wird das gesamte Ausmaß des Verfalls und der Zerstörung sichtbar. Feuchte und vom Schwamm befallene Wände lassen die Tapeten hinabrollen. In der Decke klafft ein riesiges Loch, wo früher der Kronleuchter hing. Von den prächtigen Deckengemälden sind nur noch Fragmente erkennbar und der Stuck fehlt vielerorts. Die Bodendielen knarren oder wurden teils ganz herausgerissen. Die Fenster sind notdürftig mit Holzdielen verschlagen, nachdem die Scheiben wohl geborsten waren. Müll und Schutt, wohin das Auge reicht. »Du hast recht. Es ist … es war unser Märchenschloss«, muss der Kobold zugeben. »Welch ein böser Zauber mag über diese schöne Stätte gekommen sein? Welch ein Verfall überall.« Er geht ein paar Schritte durch den Saal. »Eyers-maners-duers, noch einmal! Ist diesen Menschen denn gar nichts heilig? Schau nur, die prunkvollen Deckenmalereien und Wandgemälde, die Kronleuchter. Alles kaputt und zerstört! Dieser Verfall ist nicht allein durch den Blitzeinschlag von heute entstanden. Da muss in der Vergangenheit Schlimmeres passiert sein. Nur was?« |
»Da sagst du was. Dein Wort in Morgels Ohr«, ist der Kobold einverstanden. »Wo ist eigentlich diese Elster hin?« »Ich bin hier«, ruft Gloria ihnen zu. Völlig verstört hat sie sich in eine entlegene Nische verkrochen, um dort ihrem Klumpen Krimskrams nachzuweinen. »Schaut nur, mein Schatz, mein Nest, alles kaputt. Was soll nun aus mir werden?« »Das bekommt meinereiner sicher wieder hin«, tröstet sie die Waldfee. »Wartet hier, unsereiner kommen bald zurück.« Geschwind machen sich die beiden auf, den langen Saal und die Galerien zu besuchen. Überall das gleiche zerstörerische Bild. »Das ist kein Märchenschloss mehr, das ist eine Schlossruine«, ist Morgel entsetzt. »Was wurden hier früher für Feste gefeiert. Der Glanz, die Pracht. Für ewig vorbei, für ewig vergessen.« Auch die Amtshäuser sind heruntergekommen und verlassen. Vielerorts wachsen bereits Gras und kleine Bäumchen auf den Fenstersimsen und Balkonen. »Hallo, welchereiner versteckt sich dort?«, fragt die Fee. Unaufhörlich rinnt Regenwasser von der Decke des Kaminzimmers. Gloria sitzt verstört in ihrer Ecke und beweint noch immer den Verlust ihres Krimskrams. Da, wo sich Bertis Mäusewohnung befand, klafft nun ein großes Loch. Zersplitterte Deckenbalken, Lehmklumpen, Stroh und Dielen lugen hervor. »Berti, Berta!«, ruft Casemir völlig aufgelöst, als er den Schaden betrachtet. »Wo seid ihr alle?« Die wiederentdeckte PrachtDie acht begeben sich zurück ins Kirchenschiff. Morgel und die Waldfee beratschlagen mit Herrn Casemir darüber, wie sie den Tieren helfen können und auch darüber, wie das Schloss gerettet werden könnte. Da sich die drei kaum noch daran erinnern können, wie alles vor hundert Jahren hier aussah, kommt Regina eine tolle Idee: »Meinereiner kann für ein Weilchen das Gemäuer so erscheinen lassen, wie es damals war, vor dem Verfall. Soll meinereiner dies tun?« Mit einem Male wird die Schlosskirche von Hunderten brennenden Kerzen erleuchtet, die in der Mitte des Raumes zu schweben scheinen. Wohlige Wärme macht sich breit. Die Kapelle zeigt sich in ihrer alten, ehrwürdigen Pracht, so wie sie vor langer Zeit einmal aussah, als hier noch Gottesdienste stattfanden. Die aus grau und grün gemustertem Marmor und weißem Alabaster geformte Kanzel, welche mit Kartuschen und Statuetten reich besetzt ist, erstrahlt in neuem Glanze, ebenso wie der Altartisch und das kunstvolle Altargemälde. Der Boden wirkt farbig gefliest. Die Kassettendecke schimmert blau, wie ein Sternenhimmel und wird von roten Säulen getragen. Rechts und links verlaufen reich verzierte Bankreihen. Von den Wänden blicken Statuen auserwählter Menschen herab. Erstaunt raunen die vielen Tierkinder und lunzen dabei unter den Holzbänken hervor. Zusammen machen sich die drei auf den Weg, das gesamte Schloss wie neu erscheinen und erleuchten zu lassen. Zuallererst die vielen Zimmer in den Amtshäusern, dann die Säle und die Galerien. Die Wände des Ahnensaales und der Salons erstrahlen in den Farben Grün und Gold. Der Stuck und die Deckenmalereien sehen aus, als wären sie gerade von den alten Meistern erschaffen worden. Die Parkettböden glänzen wie frisch gewienert und laden zum Tanzen ein. Schwere Samtvorhänge verdecken die farbenfrohen Fenster und das filigrane, barocke Mobiliar nimmt anmutig den ganzen Raum ein. Im Kaminzimmer bullert der große Kanonenofen vor sich hin. Das Schloss ist herausgeputzt vom Dach bis hinunter ins Kellergewölbe. »Das ist ein Eyers-maners-duers wert«, freut sich Morgel und tanzt mit der Waldfee auf der einen und mit Herrn Casemir auf der anderen Hand beschwingt im Saal auf und ab. Stimmengewirr und Gelächter kommen plötzlich auf. In der Ecke spielen Musiker eines kleinen Orchesters, mit weiß gepuderten Perücken, auf Cello, Cembalo, Fagott, Kontrabass, Laute und Orgel, liebliche Klänge. Auf dem Parkett erscheinen unzählige tanzende Gestalten. Die Damen sind in farbenfrohe, pompöse Kleider aus feinster Seide gehüllt und auf deren Köpfen sitzen ausladende, hochgesteckte Perücken. Die Herren tragen Samtanzüge mit Schärpe und Schleifchen. |
»Ups! Ich werde gar nicht unsichtbar«, staunt Morgel auf einmal. »Die tanzen ja durch uns durch.« »Welcheeiner sind nicht wahrhaftig«, begegnet Regina. »Alles nur Illusion. Alles ist nur ein Traum. In wenigen Minuten wird das Spektakel vorbei sein und unsereiner sitzen wieder in der gruseligen Ruine.« »Das ist aber schade«, ist Herr Casemir traurig. »Das ist alles nur Zauberei?« »Dem ist so«, antwortet die Waldfee. »Moment einmal, lasst mich mal überlegen«, spricht Morgel, spaziert in die Ecke und setzt sich auf einen dieser Barockstühle. »Autsch! Die sind ja auch nicht echt«, ruft er, als er längelang auf den Boden plumpst. Erzürnt verschränkt er seine Beine zum Schneidersitz und vertieft sich in seine Gedanken, während Regina unentwegt umherfliegt und weitere Räume des Märchenschlosses zum Leben erweckt. Gut eine Stunde später springt Morgel auf und ruft lauthals heraus: »Heureka! Ich habe es.« Gesagt, getan. Morgel drückt sofort die Wurzelhöhlentaste auf seinem Tastending und schwuppdiwupp steht er in seiner Koboldstube und nimmt besagtes Zauberbuch Nummer fünf aus dem Regal. »Irgendwo habe ich doch einen solchen Zauberspruch gelesen«, murmelt er vor sich hin und blättert die Seiten durch. »Ah ja, da steht er, Spruch 234. Die Zahl sollte ich mir merken.« Kurze Zeit später ist Morgel mit den Dreien zurück in der Schlossruine. Die verzauberte BaustelleAch, sieh an, deinereiner hat Verstärkung mitgebracht«, ist Regina überrascht. seid des Fürsten willens, ihr nützlich Dinger. Erfüllt den Zweck, der euch gegeben erweckt jene Hallen zu neuem Leben. Hölzer, Eisen, Ziegel und Zement kommt herbei, und dies behänd. Farben, Stoffe vorzüglicher Pracht werden bedürft in dieser Nacht!« |
Die Worte verhallen in den Weiten der Schlossflügel. Totenstille herrscht. Nichts rührt sich. Enttäuscht werfen sich die Sechs stumme Blicke zu. Mit einem Male rappelt es an der großen Pforte des Hohen Hauses. Der Kobold stürzt eilends die Treppe hinunter ins Untergeschoss. Die anderen folgen ihm geschwind. Er öffnet die massive Gitterflügeltür, doch da ist nichts und niemand zu sehen. Ernüchtert, wendet er sich ab. Plötzlich pocht es sanft an Morgels Schuh. Ein klitzekleiner Zimmermannshammer in Miniausführung, eher ein Spielding mit zwei Kulleraugen, steht auf der Türschwelle. »Ihr habt gerufen, großer Fürst des Waldes«, flüstert der Hammer. »Lasst mich eintreten.« »Aber gerne doch, tretet näher«, spricht der Kobold, weist dem kleinen Ding den Weg und fragt: »Du bist allein? Hast du einen Namen?« »Ein Hämmerchen ist besser als kein Hämmerchen«, antwortet dieser. »Einen Namen habe ich auch, mein Herr. Nennt mich Silas Holzkopp. Wo soll ich mit der Arbeit beginnen?« »Am besten auf dem Dach, Silas, damit es nicht weiter hereinregnet«, weist Morgel ihn an. »Ganz, wie ihr wollt, großer Fürst des Waldes«, flüstert der kleine Kerl. Plötzlich ein lauter Pfiff und schon schlägt wie auf Kommando auch der zweite Flügel der ausladenden Gittertür auf und Hunderte dieser Hämmer, allerdings diesmal in passabler Größe, marschieren jubelnd an den Sechsen vorbei ins Schloss. Anschlagwinkel, Bügelsägen, Fuchsschwänze, Handbohrmaschinen, Holzhobel, Schraubenschlüssel, Schraubenzieher, Schraubzwingen, Tausende Holzdübel, Kneifzangen und Stahlnägel, welche wiederum Dachlatten und Holzbalken heranschleppen, reihen sich ein und eilen alsdann Silas nach, die Treppenaufgänge hinauf. Bleistifte, Pergamente, auf denen der Bauplan des Schlossdaches aufgezeichnet ist, Nivelliergeräte, Wasserwaagen, Zirkel und Zollmaßstäbe, folgen im Gleichschritt. Zu guter Letzt rauschen noch Dämmstoffmatten, Dachpapprollen, Dachbleche, Rinnen, edle Schieferplatten und allerhand Kleinkram an ihnen vorbei. »Puh, da hast du ja ein tolles Treiben entfacht«, staunt Casemir. Kaum hat er den Satz ausgesprochen, stolpern Kettensägen, Schaufeln, Stemmeisen, Meißel, Maurerhämmer, Spachtel, Besen, Deckenbürsten und Wassereimer herein und beginnen sogleich mit dem Entkernen und Säubern der Decken, Wände und Böden. Schubkarren bugsieren ohne Umwege all den Unrat und Bauschutt ins Freie. Nagelneue Stromkabel, Wasserleitungen und Abwasserkanäle verlegen sich von selbst im ganzen Haus. Ziegelsteine und Steinplatten türmen sich allerorts auf. Wasserschläuche winden sich in den Fluren und leiten kühles Nass zu den Mörteltrögen, in denen Riesenquirle Sand und Zement vermengen. Unzählige Maurerkellen bessern, wie von Geisterhand geführt, kaputtes Gemäuer aus und Glättkellen verputzen dieses fachkundig. Inzwischen schreiten die Dacharbeiten voran. Silas, obwohl er so klein ist, treibt die Werkzeuge gehörig an: »Werkzeugkollegen, klotzt richtig ran, zeigt, was in euch steckt. Wir wollen den Fürsten des Waldes doch nicht enttäuschen«, ruft er den anderen zu. »Wir sind hier, um Großes zu leisten.« Wie von selbst verlegen sich Dämmplatten und Schutzfolien auf dem neuen Dachgerüst. Dachlatten werden in Sekundenschnelle aufgenagelt und Schieferplatten verlegt. »Seid ihr fertig?«, fragt Silas nach wenigen Minuten. »Das Dach ist fertig«, freut sich die Waldfee, als sie zusammen mit dem Hämmerchen wieder in der Empfangshalle ankommt, »und dicht ist es auch. Da hat seinereiner Silas Holzkopp ganze Arbeit geleistet.« »Was ist mit der Eisentür?«, fragt Gloria. »Mir ist aufgefallen, dass diese bereits offenstand, als ich vorhin durch den Keller sauste.« »Stopp, Stopp, Stopp! Erst ist zu klären, welches Gewerk noch ausgeführt werden muss, ansonsten werden wir womöglich nicht fertig bis Sonnenaufgang«, ruft der Kobold. »Also, wir brauchen eine Heizung, hier ist es saukalt. Eine Kochstelle natürlich auch, Toiletten und Bäder. Wir sollten alles malern und tapezieren lassen. Der Stuck muss erneuert werden, auch die Deckenmalereien und Wandgemälde. Zeitgemäße Türen und Fenster sind vonnöten, technisch auf dem neuesten Stand natürlich und einbruchsicher. Parkett, Parkett brauchen wir und Teppiche und Bodenfliesen von großer Zahl. Vorhänge und antike Möbel, alles stilecht, versteht sich. … Puh, da ist noch eine Menge zu tun.« Hundewelpe Paschinka trifft derweil während seines Streifzugs durch die Schlossgänge auf eine kleine dreieckige Maurerkelle und einen verbeulten Mörteleimer, die zusammen gerade winzige Ritze im Putz ausbessern. »Was streunst du hier so herum?«, fragt die Dreieckskelle. »Hast du nichts zu tun?« Die pfiffige GespensterjagdWährend die Werkzeuge der Bodenleger, Heizungsbauer, Klempner, Maler und Tischler ins Schloss stürmen und sich an die Arbeit machen, flitzen Morgel und die Fee von Salon zu Salon und von Zimmer zu Zimmer. Raus gerissene Kabel, undichte Wasserleitungen, umgestoßene Mörteleimer, sogar kaputt getrampelte Werkzeugdinger finden die beiden vielerorts vor. »Seinereiner Geist war hier. Er will unsereiner Arbeit zunichtemachen«, stellt Regina fest. »Dort ist seinereiner, auf dem Absatz der Kellertreppe. Schau!« Morgel und die Fee halten sich die Ohren zu. Unversehens rauscht den beiden eine atemraubende, miefige Staubwolke entgegen. Ihnen bleibt die Luft weg. Als die Wolke sich legt, ist der Geist verschwunden. »Hrr-Hmm! Hrr-Hmm!«, muss Morgel husten. »Hubertus kann aus diesen Mauern nicht entkommen. Er ist hier im Schloss gefangen. Es macht also keinen Sinn, ihm nachzujagen. Der taucht wieder auf. Hrr-Hmm!« Vor der schweren Eisentür zum Verlies finden die beiden ein kraftstrotzendes, durchtrainiertes Brecheisen vor, welches allerdings mit einem Seil an eine der Steinsäulen gefesselt ist. »Helft mir! Bitte helft mir doch!«, ruft es. »Ich bin der Egon, der Egon Kuhfuß. Man hat mich hereingelegt, wenn ich diesen Kerl bloß erwische.« |
»Wohl wahr, daran habe ich nicht gedacht. Aber diese Tür ist total verbogen«, kritisiert der Kobold Egon. »Sie klemmt und die Scharniere sind herausgerissen. Alle zehn Riegelschlösser sind kaputt. Das ist nur noch Schrott. Ging dies nicht sorgsamer?« »Das war mein erster Bruch. Tut mir leid, aber ich bin bisher von einem Lehrling eingearbeitet worden«, wehrt sich das Brecheisen. »Beim nächsten Mal mache ich es besser. Versprochen!« »Nun gut, es ist ja noch kein Meister vom Himmel gefallen. Dann bringe ich das schnell mal in Ordnung«, ist Morgel beruhigt und sagt seinen Zauberspruch auf: »Hammerschlag und Eisenfeile, dieses Teil ist wieder heile!«. Das Türblatt richtet sich auf und rastet von selbst in die Scharniereisen ein. »Gehe nun zu deinereiner Werkzeugkollegen hinauf«, fordert die Fee Egon auf, »und helfe, wo deinereiner kann.« Morgel und Regina schauen sich um. Das Kellergewölbe sieht aus, als wäre es gerade von den großen Meistern ihrer Zeit errichtet worden. Jahrhundertealte Steine sitzen makellos übereinander. Fugen für Fugen schließen die Reihen. Die Böden glänzen, wie frisch lackiert, im ersten Dämmerlicht des Tages, welches durch die bleiverglasten Fenster dringt. Die Speisekammern sind prall gefüllt, mit Vorräten aller Art. Im Weinkeller nebenan ordnet sich Fass an Fass und Flasche an Flasche. Ein lieblich, süßer Geruch breitet sich darin aus. Gleich dahinter schließt sich eine große Gesindestube an und daran eine mittelalterlich eingerichtete Schlossküche. Die steinernen Regale sind vollgestopft mit feinstem Meißner Porzellan, Unmengen an Gebrauchskeramik und über der Kochstelle, einem übergroßen Kamin, hängen in Reih und Glied eiserne Bratpfannen und kupfern glänzende Kochtöpfe. Aus dem Gewürzregal drängt sich ein orientalisch anmutender Duft auf. |
»Sagtest du vorhin locken, ihn überlisten? … Mmh, mal überlegen, wenn ich mich richtig erinnere, fuhr dieser fürchterliche Hubertus seinerzeit voll auf warm duftendes Pflaumenmus ab«, ist sich Morgel sicher, »und er liebte dazu frisch gebackenes Graubrot.« »Kein Problem«, sagt Regina, »das braut meinereiner fix in der Schlossküche zusammen. So kriegen wir seinereiner.« Kaum hat sie ausgesprochen, legt sie auch schon los. Als Erstes entfacht die Fee mit ihrem Zauberstab in dem großen Kamin ein Feuerchen aus Reisig und Holzscheiten und heizt dann dem steinernen Backofen gehörig ein. Als Nächstes füllt sie kiloweise entkernte Pflaumen, die sie in der üppig gefüllten Speisekammer gefunden hat, in den gusseisernen Trog. Fügt verschiedene Gewürze, wie Anis, Ingwer, Nelken, Sternanis, Zimt und Zitronenschalen hinzu und lässt alles brodelnd aufkochen. »Mmh!«, streckt Casemir seine Nase in die Küche. »So köstlich hat es hier im Schloss schon lange nicht mehr geschnuppert. Ich bin wie im Rausch.« Mit einem Mal wird der betörende Duft der Speisen von ekelerregendem Gestank überlagert. Gloria hält sich den Schnabel zu und schlüpft vor Furcht in eine Suppenterrine, um nicht gesehen zu werden. Casemir verkriecht sich lautlos unter dem massiven Küchentisch. Der Raum verdunkelt sich. »Was für ein betörender Duft mir hier in die Nase steigt«, flüstert Hubertus vor sich hin. »Ist das für mich?«, fragt er und stürzt sich blindlings auf den Teller und stopft sich die Brote in die Gusche. »Mmh ist das köstlich!«, murmelt er mit vollem Mund, sodass man ihn kaum verstehen kann. Der Kobold und die Waldfee nehmen, ohne zu zögern, ihre Zauberstäbe zur Hand und schleudern zwei kraftvolle Blitze in Richtung des Geistes. Dieser bekommt einen mächtigen Stoß, sodass er durch die offene Eisentür zurück in das dunkle Loch geschleudert wird. Die Tür fällt zu und ein Riegelschloss nach dem anderen rastet ein. »Das war es. Die Gefahr ist gebannt. Lasst uns nun wieder den Bauarbeiten zuwenden«, schlägt Morgel vor. »Die Werkzeuggeister haben hier unten im Keller ganze Arbeit geleistet. Mein Lob! Alles ist bereits fertig. Einfach toll!« Das prachtvolle MärchenschlossAuf dem Weg nach oben inspizieren Regina, Morgel und Casemir jedes noch so kleine Zimmerchen, die Toiletten, die Bäder und Flure, die Galerien, Salons und Säle. Hier und da kehren Besen den letzten Bauschutt zusammen und Schaufeln verladen diesen auf die Schubkarren. Unzählige Mopps schwingen tanzend hin und her und wischen nebelfeucht nach. Im Ahnensaal bessern kleinen Pinsel noch winzige Fehler an den Wandgemälden aus. Das gesamte Märchenschloss glänzt vom Kerker bis unters Dach, so, als wäre es gerade schlüsselfertig errichtet worden. Überall duftet es nach frischer Farbe. In den Kaminen und Öfen prasseln die Feuer. Wohlige Wärme macht sich breit. Nadeln und Scheren setzen an den pompösen Vorhängen vor den neuen Fenstern flink letzte Stiche. Im Kaminzimmer gibt es Tumult. Während das Rehkitz die grau gepolsterte barocke Sitzbank zusammen mit einem kleinen Tischchen wieder und wieder in die Mitte des Zimmers schiebt, schimpft es: »Ich möchte, dass du hier stehst, direkt unter dem Kronleuchter.« Jedoch rutschen beide Möbelstücke unentwegt an die Wand zurück, so, als wären sie an einem Gummiband befestigt. »Aber, aber, ihr werdet doch nicht streiten«, ruft Morgel das Kitz zur Ordnung. »Schau nur, du zerkratzt das schöne neue Parkett mit deinen Hufen. … Wenn ich mich richtig erinnere, stand die Bank schon damals direkt unter dem Bildnis mit der musizierenden Frau und den zwei Kindern. Wir sollten beides dort belassen.« Von Weitem ist frenetisches Stampfen zu hören. Nach Gewerk geordnet, in Reih und Glied, Seite an Seite stehend, sind die unzähligen Werkzeuge, Maschinen und Geräte angetreten. Der Stolz, an diesem großartigen Bauwerk mitgewirkt zu haben, ist ihnen anzusehen. »Alle Werkzeuge sind vollzählig zum Appell versammelt«, meldet der kleine Hammer, als die vier unten ankommen. »Es war uns eine Ehre, dem Fürsten des Waldes Munk Orgu-Telas und der lieblichen Waldfee Regina gedient zu haben.« gehet nun, euer Gewerk ist für heut vollbracht. Kehret heim zu euer Handwerksmeister, dient ihnen stets mit Freud und Bedacht!« Jubel bricht los. Tosender Beifall, Geklapper und dumpfes Stampfen, lässt die ehrwürdigen Mauern des Märchenschlosses erzittern. Etwas Putz rieselt von der Decke und hüllt die Massen in eine dünne Staubwolke. »Ihr müsst euch unsere neue Mäusewohnung anschauen«, ist Mäusedame Berta ganz aufgeregt. »Im Kaminzimmer, gleich oberhalb des Kanonenofens. Es ist wohlig warm und nun haben wir auch einen direkten Zugang zur Schlossküche erhalten. Süperb!« »Und was ist mit euch, Herr Casemir«, möchte Morgel wissen, »habt ihr eure Schulstube retten können?« »Wir müssen nun Abschied nehmen und das Märchenschloss seiner Bestimmung überlassen. Bleibt zu hoffen, dass die Menschen dessen Bedeutsamkeit erkennen, unsere Taten würdigen und diese edle Stätte für ewige Zeiten erhalten«, spricht Morgel in die Runde. »Seid ihr alle da? Antony, Paschinka, Rehkitz und Regina, kein Wort darüber zu anderen, was diese Nacht hier geschehen ist. Das bleibt unser Geheimnis.« Sekunden später sitzen die sechs am Ufer des Teiches und genießen die Morgensonne. »Wo wart ihr gewesen?«, fragt Schröder, der Waldkauz nach. »Lehrer Dachs und ich wollten gerade einen Suchtrupp zusammenstellen und losschicken.« Am Tag darauf herrscht Wirbel am Frühstückstisch in der Wurzelhöhle. Flocke, die Posttaube vom Morgelwaldpostamt, hat einige druckfrische Zeitungsfetzen mitgebracht. Die Schlagzeilen auf der ersten Seite stechen allen sofort ins Auge: „Sensationell! Heinzelmännchen bringen Märchenschloss über Nacht auf Vordermann“ oder „Unbekannte haben Schloss Reinhardsbrunn in Rekordzeit restauriert“. Ende! Ob das Märchenschloss zu Reinhardsbrunn tatsächlich einmal wieder im altehrwürdigen Glanze erscheint, bleibt abzuwarten. Drücken wir den Menschen die Daumen und wünschen wir Ihnen viel Glück. Ob allerdings der Geist Hubertus seine Erlösung findet und ob wir das fleißige Thüringer Handwerkszeug nochmals bei der Arbeit erleben dürfen, erfährst Du sicher irgendwann einmal in einer der nächsten Morgelgeschichten, wenn diese hier für dich erzählt werden. Bleib voller Neugier! |
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„Morgel und das verlotterte Märchenschloss“ von Jens K. Carl ist ein fesselndes Werk, das die Leser in die märchenhafte Welt des Thüringer Waldes entführt. Die Geschichte dreht sich um das Jagdschloss zu Reinhardsbrunn, eine sagenumwobene Ruine, die einst auf den Mauern eines Benediktinerklosters errichtet wurde. Morgel und seine Freunde sind bestürzt über den Verfall des Schlosses und nehmen es sich zur Aufgabe, die ehrwürdigen Mauern zu neuem Glanz zu verhelfen1.
Der Schreibstil von Carl ist lebendig und bildhaft, was die Magie der Handlung unterstreicht. Er nutzt eine Sprache, die sowohl Kinder als auch Erwachsene anspricht, und schafft es, die Leser mit den Abenteuern von Morgel und seinen Freunden zu fesseln. Die Geschichte ist mit vier märchenhaften Schattenrissen illustriert, die die Atmosphäre des Buches bereichern und die Fantasie anregen1.
Insgesamt bietet „Morgel und das verlotterte Märchenschloss“ eine spannende und herzerwärmende Lektüre, die nicht nur unterhält, sondern auch zum Nachdenken über den Erhalt historischer Stätten anregt.
Bezaubernde Morgelgeschichten, wunderschön und mit viel Liebe geschrieben.
Wenn man zwischendurch Mal kurz die Augen schließt, fühlt man sich eins mit der Geschichte, der Zeit und den Figuren. 🌞🌞🌞🌞🌞
Bezaubernd und sehr liebevoll geschrieben. Ich konnte sofort eintauchen und war ganz mit dabei!