Eine Fortsetzung von „Morgel und der kleine Zirkusbär“.
Morgel und der Möchtegernzauberer
»Das Telefon klingelt«, ruft Nicole, die neue Tierarzthelferin, welche seit gut zwei Wochen in der Praxis des Herrn Doktor Freund aushilft.
»Gehe mal dran«, ist aus dem Operationssaal zu hören.
»Mache ich!« … »Hallo, Tierarztpraxis Doktor Freund! … Aha … alles klar … gut … ich sage es dem Herrn Doktor. Auf Wiederhören!«, sagt das Mädchen am Telefonhörer. Dann legt sie auf.
»Wer war das? Was ist los?«
»Merkwürdig«, antwortet sie. »Wir sollen einen Zirkus inspizieren, hat die Dame gesagt. Sie sei vom Veterinäramt. Sie wüssten schon Bescheid.«
»Ah ja, gut«, freut sich Doktor Freund. »Ist er endlich da. Das wird mal eine schöne Abwechslung für mich. Mach jetzt Feierabend Nicole und gehe nun nach Hause. Bis morgen, dann gibt es wieder viel zu tun.«
»Das mache ich. Tschüss, Herr Doktor. Schönen Tag noch.«
Zügig packt der Tierarzt seine antik anmutende Arzttasche zusammen, schnappt seinen Mantel, den Hut und macht sich auf den Weg zum Zirkus.
Mal sehen, was mich dort erwartet, denkt er sich. Oh, da sind dunkle Wolken am Himmel aufgezogen. Da nehme ich doch lieber einen Schirm mit, man weiß ja nie.
Eine unerwartete Begegnung
Es dämmert bereits, als er mit seinem Trabant-Kombi auf dem Rummelplatz ankommt. Erste Regentropfen prasseln hernieder. Die Scheibenwischer versagen ihren Dienst.
Es stürmt. Blätter fliegen ringsumher, Äste, ganze Sträucher. Das Rauschen der umstehenden Pappeln ist ohrenbetäubend. Das rhythmische Wiegen der Baumkronen verheißt nichts Gutes.
Hier und da wuseln Zirkusarbeiter aufgeregt umher und mühen sich ab, das Zirkuszelt aufzubauen. Gar nicht so einfach, wenn einem der Wind heftig um die Nase weht, geht es dem Doktor durch den Kopf. Andere wiederum rangieren pitschnass einen Wohnwagen hin und her. Wieder andere warten paffend den Regenschauer ab, um dann Holzbänke und Barrieren für die Manege aus einem klapprigen Materialwagen ausladen zu können.
Der heftige Schauer ist fix vorüber, so schnell, wie er gekommen war. Sachte steigt der Tierarzt aus dem Wagen aus und tänzelt gekonnt um die Pfützen herum, hinüber zum Zelt der Tiere, welches abseits gelegen ist.
In einer Box gleich neben dem Eingang steht ein elegant anmutender Schimmelhengst mit prunkvoll geflochtener Mähne. Er blubbert leise vor sich hin, als er den Fremden kommen sieht.
»Du bist ja ein Hübscher. Wie heißt du?«, fragt der Doktor, als er sich dem Pferd behutsam nähert und an seiner Hand schnuppern lässt.
»Tristan ist mein Name«, antwortet der Hengst. »Wer bist du denn?«
»Ich bin Tierarzt. Ein ganz besonderer Tierarzt. … Ein schöner Name, Tristan. Ein wenig dünn bist du, aber ansonsten machst du einen guten Eindruck.«
Nebenan frisst ein in die Jahre gekommener Haflinger seelenruhig Hafer und Weizenkleie aus einem alten Pappeimer und ein junger grau gescheckter Esel schaut ihm aufmerksam dabei zu.
»Und wie heißt ihr beiden?«, fragt der Doktor.
»Das ist Bill, unser Frührentner. Er lahmt seit Kurzem und spricht nicht mehr. Der kleine, schüchterne Graupelz heißt Nils«, antwortet Tristan.
»Na, du hast aber einen gesunden Appetit«, streicht der Tierarzt dem Haflinger über den Rücken, »das ist immer ein gutes Zeichen. Zeig mir mal deinen linken Huf, Bill. Der fühlt sich recht warm an und geschwollen ist er auch. Da müssen wir bald etwas tun.«
Der kleine Esel versteckt sich derweil hinter Tristan. Ihm ist der sonderbare Fremde nicht geheuer.
Eine Box weiter motzen fortwährend zwei Ziegenböcke lautstark umher.
»Ich bin der Toni«, meckert der Braune.
»Mich nennt man Freddy«, fügt der Schlohweiße hinzu. »Schau lieber mal nach dem Neuen, der könnte sicher Hilfe gebrauchen.«
Gleich hinter einem großen Heuhaufen schleckt eine Alpakadame ihr Jungtier ab, welches sie vor wenigen Augenblicken geboren hat. Unsicher taumelt das kleine Fohlen umher und versucht, schnellstmöglich auf die Beine zu kommen.
»Das hast du gut gemacht«, lobt Doktor Freund das Muttertier. »Wie soll es heißen? Hast du schon einen Namen?«
»Es ist ein er. Ich werde ihn Gian nennen«, antwortet die Alpakadame, »ganz nach seinem Großvater.«
»Ein schöner Name. Und wie heißt du?«
»Killari, das bedeutet dort, wo ich herkomme, Mondlicht.«
»Wunderbar! Dann will ich euch nicht weiter stören. Mit dem Kleinen ist alles in Ordnung. Er braucht jetzt viel Ruhe und seine Milch«, freut sich der Doktor. »Dann will ich mal noch nach dem Dickhäuter schauen.«
Halbblind tänzelt eine alte Elefantendame auf der Stelle und schwingt ihren Rüssel hin und her. Eine schwere Eisenkette hindert sie daran, umherzulaufen. Ihre Haut ist von tiefen Furchen durchzogen und an manchen Stellen schorfig.
»Du könntest auch mehr Zuwendung gebrauchen«, stellt der Tierarzt fest. »Wie darf ich dich nennen?«
»Laska«, nuschelt sie fortwährend im Rhythmus ihrer Bewegungen. »Laska … Laska … Laska.«
Ihr müsst hier alle raus, denkt sich der Doktor.
»Halte durch!«, flüstert er ihr zu und grault sie hinter dem Ohr. »Ich komme bald wieder, dann wird sich hoffentlich so einiges ändern für euch.«
Danach macht er sich auf, nach weiteren Zirkustieren zu suchen.
Vorsichtig schleicht der Tierarzt zwischen den Anhängern umher. Aus einem hört er ein lautes Schnarchen, welches immer wieder von Seufzern und krächzenden Hustenanfällen unterbrochen wird. Behutsam hebt der Doktor das Verdeck des Anhängers an. In einem rostigen Käfig liegt ein großes braunes Etwas und schlummert vor sich hin. Mit einem Satz hüpft er auf die Ladefläche. Das Tier erwacht und verkriecht sich verängstigt in die hinterste Ecke des Käfigs.
»Brröö!«, knurrt es leise vor sich hin.
»Hallo, wer bist du denn?«, fragt der Doktor. »Ich will dir nichts Böses tun. Hab’ keine Angst vor mir. Komme näher ins Licht, dann kann ich dich besser sehen.«
Wieder ein leises: »Brröö!«
»Wie geht es dir? Ich bin ein Tierarzt. Ich kann dir helfen.«
»Lass mich«, murmelt das braune Fellknäuel. »Mir kann keiner mehr helfen. Auch kein Tierdoktor.«
Zaghaft leuchtet Doktor Freund mit einer Taschenlampe in die Ecke. »Eine Bärin«, ist er erstaunt.
Ihr Fell ist an einigen Stellen ergraut. Mancherorts fehlt es ganz und gar. Am Po und auf dem Rücken klaffen offene Wunden und die Fußsohlen sind rissig und mit Schorf übersät. Die Augen sind blutunterlaufen und ihre Lider entzündet. Einige Zähne fehlen und unentwegt läuft Sabber aus ihrem Maul. Sie müffelt fürchterlich.
Der Doktor schaut sich weiter um. An den Planken des Anhängers kleben zerfetzte Werbeplakate. Sie zeigen das Zirkusleben zu früheren Zeiten. Auf einem Bild entdeckt er eine glücklich dreinschauende Bärenfamilie. Der kleine Bär, in deren Mitte, kommt ihm irgendwie bekannt vor, hat er doch ein winziges, helles Fleck unter dem linken Auge. Momentan fehlt ihm jedoch jegliche Erinnerung.
»Du verstehst mich also … dir hat man offenbar übel mitgespielt«, muss der Tierarzt feststellen. »Rücke näher und lass mich bitte deine Wunden versorgen. Wie ist dein Name?«
»Brröö!«, brummt die Bärin. »Dana … Dana ist mein Name.«
»Dana?«, stockt ihm der Atem. »Dein Name ist Dana?«, fragt er nach. Verwirrt blickt er abermals auf das Plakat. »Das ist es, das muss der kleine Dinco sein«, flüstert er leise vor sich hin.
»Du musst lauter sprechen, sonst kann ich dich nicht hören«, brummt sie. »Ja, Dana, so werde ich gerufen.«
»Hast du einen Sohn, namens Dinco?«
»Dinco«, stammelt sie vor sich hin. »Dinco? … Dinco! Aber ja, mein Sohn. Ich habe ihn fortgeschickt. Er soll es besser haben als ich. Wie es ihm wohl seither ergangen ist?« Dann döst sie wieder ein.
Was mache ich bloß? Sage ich es ihr? Einen Augenblick lang denkt der Doktor nach, doch dann platzt es aus ihm heraus: »Dinco geht es gut. Er lebt … bleibe wach! Hörst du!«, stupst der Arzt gegen ihren Arm. »Er wohnt im Morgelwald und ist putzmunter.«
»Er lebt, Dinco lebt«, nuschelt Dana verschlafen vor sich hin. »Er lebt?«, fragt sie auf einmal mit freudiger Stimme. Ihre Augen beginnen zu leuchten. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. »Er lebt, mein kleiner Dinco lebt!«, ruft sie in einem fort und versucht, sich zu erheben. Sie klammert sich an die Eisenstangen und brüllt: »Er lebt! Er lebt! … Ist das wahr? … Er lebt? Wo ist mein Sohn? Im Morgelwald? Wo soll das sein? Noch nie gehört von diesem Ort.«
»Pssst! Sei bitte leise«, flüstert der Arzt ihr zu. »Der Morgelwald ist ein Zauberwald. Er liegt hier ganz in der Nähe. Dinco hat dort viele neue Freunde gefunden. Es geht ihm gut.«
Unbemerkt von den beiden schleicht sich ein putziges Mauswiesel heran und belauscht das sonderbare Gespräch. Es ist Enno, ein pfiffiges Kerlchen, gerissen, schlau und nicht immer ganz ehrlich. Ein Zögling des Zirkusdirektors. Für eine Leckerei würde dieser sogar seine Großmutter verraten. Und so kommt es, dass Enno sogleich dem dickbäuchigen Mann mit strähnigem, fettigem, schwarz gelockten Haar Bericht erstattet.
»Signor Rossini, ich bin es«, flüstert Enno durch die Tür des pompösen Wohnwagens. »Da macht sich ein Fremder an Dana ran.«
»Ein Fremder?«, fragt der Zirkusdirektor nach, als er mit einem heftigen Schlag die schmale Wagentür aufknallt. »Was sagst du da?«
»Sie sprechen miteinander über Dinco«, berichtet der kleine Marder.
»Dinco? Der Fremde spricht mit ihr?«, ist Rossini erstaunt. Dachte er doch, dass er der Einzige auf der großen weiten Welt wäre, der die Gabe hat, mit Tieren sprechen zu können. »Na warte, niemand redet ungestraft mit meiner Bärin. Nun bekommen wir Dinco, den kleinen Hosenscheißer, zurück. Ich wusste doch, dass sich dieser Lümmel hier irgendwo herumtreiben muss.«
»Ein Leckerli, bitte«, fleht Enno. »Bekomme ich dafür ein Leckerli?«
»Hier, nimm schon«, brummt Rossini und hält dem Wiesel ein paar Brocken Trockenfutter hin. »Das muss ich mir sofort anschauen.«
Mit Mühe schiebt er eilig seinen dicken Bauch durch die schmale Wohnwagentür. Mit Karacho schnippt einer der goldfarbenen Knöpfe seiner schmucken Uniformjacke im hohen Bogen davon. Enno grient vor sich hin.
»Verflixt, suche das Ding!«, ruft er dem Wiesel zu und eilt zum Materialwagen hinüber.
»Wohin so flink?«, fragt Zauberer Salbustini, welcher dessen Weg kreuzt.
»Pssst! Sprich leise. Da macht sich ein Witzbold an die alte Bärin ran«, antwortet der Zirkusdirektor. »Wenn ich den erwische!«
»Was will er von ihr?«
»Keine Ahnung! Das will ich ja herausfinden«, flüstert Rossini.
»Da komme ich mit«, stolpert Salbustini hinterher, »als dein Beschützer oder so.«
»Was machen sie hier?«, will der Direktor wissen, als er an den Anhänger herantritt und die Plane schlagartig zur Seite reißt. »Wer sind sie und wie sind sie hier hineingekommen? Das ist Privatbesitz. Ich rufe die Polizei, wenn sie nicht sofort verschwinden.«
Der Doktor zuckt vor Schreck zusammen und leuchtet unversehens Rossini mit der Taschenlampe ins Gesicht. »Gut so, wenn sie es nicht tun, dann rufe ich die Polizei«, erwidert er. »Ich komme im Auftrag des Veterinäramtes. Doktor Freund ist mein Name. Ich bin der hiesige Tierarzt. Man hat meinen Besuch doch angekündigt.«
»Ach so, sie sind das«, ist der Zirkusdirektor beruhigt. »Machen sie gefälligst die Lampe aus, die blendet mich. Können sie sich auch ausweisen, Herr Tierarzt?«
»Diese Bärin ist schwer krank. Wieso haben sie nicht schon längst einen Arzt gerufen?«
»Ähm, das wollte ich nachher tun«, stottert er verdattert vor sich hin. »Glauben sie mir, das wollte ich noch tun.«
»Nun ja, jetzt bin ich schon mal da. Bringt mir bitte ein Stück Seife, einen Eimer warmes Wasser und ein sauberes Handtuch. Schnell! Bitte!«
»Mach schon, Salbustini! Hole dem Herrn, was er benötigt.«
»Was geht mich das an?«, murrt der Zauberer.
»Das geht dich eine Menge an, und nun ab mit dir!« … »Mein Name ist übrigens Rossini. Ich habe hier das Sagen, denn ich bin der Direktor dieser exzellenten Truppe. Der Herr neben mir ist unser Zirkuszauberer, Senior Salbustini. Wenn sie hier fertig sind, besuchen sie mich doch einmal auf ein kleines, feines Tröpfchen in meinem bescheidenen Haus auf Rädern. Wir haben sicher eine Menge zu besprechen«, grinst er über alle Backen, streichelt dabei seinen zierlichen Kinnbart und zwinkert dem Doktor zu.
»Mal sehen. Hier gibt es einiges zu tun. Am besten ist es, sie lassen mich meine Arbeit machen. Bis bald, Herr Direktor.«
Das ist eine harte Nuss, dieser Doktor. Da muss ich mir etwas einfallen lassen, um den zu knacken, geht es Rossini durch den Kopf und trottet davon. …
… Fortsetzung im Buch: Morgelgeschichten, Band 2 oder im gleichnamigen E-Book oder im Einzel-E-Book.
Weitere Kapitel:
- Kapitel 2: Eine flinke Befreiungsaktion
- Kapitel 3: Eine besondere Nachricht
- Kapitel 4: Eine Reise in die Zirkuswelt
- Kapitel 5: Eine ernst gemeinte Drohung
- Kapitel 6: Eine irre Aktion
- Kapitel 7: Eine Zirkuswelt ohne Tiere
- Kapitel 8: Eine rasant wachsende Gemeinschaft
Altersempfehlung: ab 5 Jahren.
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Ein guter Einstieg, macht Lust auf mehr. 😃
Wundervoll bildlich geschrieben, man fühlt sich mittendrin, auch für Lesemuffel geeignet.
Danke für die schöne Geschichte. Ich bin gespannt wie es weiter geht.
Super!
Die Geschichte hat mich gleich in ihren Bann gezogen. Schön geschrieben und so phantasievoll. Ich bin neugierig, wie es wohl weitergeht…
Sehr schöne Geschichte- so anschaulich…
Danke für die schönen Geschichten.
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