
Ortwin, der junge Ritter
Frei interpretiert nach: „Der Taufritt nach Tenneberg“,
Autor: Jens K. Carl
Illustrator: Jens K. Carl (KI-generiert unter Zuhilfenahme von Microsoft Copilot Pro).
Veröffentlicht am: 16.08.2025
Als die Nebel an den Hängen des Thüringer Waldes noch wie silbrige Tücher zwischen den Buchen hingen, lag die Wartburg wie ein schlafender Drache über der Stadt. Drinnen herrschte Stille, jene gespannte Stille, die nur Burgen kennen, wenn draußen Feinde lagern. Die Hörner des Belagerers klangen fern wie böse Träume, und auf den Wehrgängen knirschte jede Sohle wie ein Geheimnis.
In dieser Nacht brachte Friedrichs Gemahlin ein Kind zur Welt — ein Mädchen mit Händen so klein wie Lerchenfüße, mit Augen so dunkel, als hätten sie den Sternenhimmel in sich aufgenommen. Der Landgraf, Friedrich der Freidige, stand im Halbdunkel und sah, wie das Leben in ihn und die Kammer zugleich zurückkehrte. „Elisabeth“, sagte er und legte die Hand auf die Stirn des Kindes, „Elisabeth sollst du heißen, wie deine Mutter, und kein Schatten soll deinen ersten Tag trüben.“ Doch die Freude hatte scharfe Ränder. Kein Priester war auf der Burg; alle waren zuvor mit den Pilgern in die Täler gezogen, ehe die Schwarzbanner die Wege sperrten. Die Amme Marta, deren Hände nach Brot und Sommer rochen, presste das Kind an ihre Brust, wickelte es fester und schüttelte den Kopf. „Die Tauffeier darf nicht warten, Herr. Das Wasser der Gnade darf nie zu spät kommen“, flüsterte sie, als spräche sie mit dem Ofenfeuer. Friedrich trat ans Fenster. Unter ihm zitterten die Lagerfeuer der Belagerer wie ein Sternbild, das vom Himmel gefallen war. Neben ihm stand Ortwin, sein jüngster Ritter, mit Augen so wachsam wie die eines Falken. „Tenneberg“, sagte Ortwin schließlich, „auf Tenneberg ist ein Priester. Ich kenne einen einsamen Pfad durch Schlucht und über Berge. Eng, aber sicher — wenn die Finsternis uns freundlich ist.“ Der Landgraf atmete tief durch. „Freundlich?“ Er lächelte schmal. „Die Finsternis ist ein altes Kind. Sie hilft den Mutigen und verschlingt die Toren. Wir reiten bei Mondaufgang.“ Noch ehe die Mägde die letzte Faser am Wickeltuch knüpfen konnten, war in der Hofstatt ein leises Rüstzeug erwacht: Sattelleder, das flüsterte, Eisen, das sich räusperte, Pferde, die mit den Hufen die Geduld in die Luft malten. Friedrich ließ nur wenige mitreiten: Ortwin, zwei schweigsame Knechte, Konrad und Ulrich, die Amme Marta — und die geschwächte Mutter, die, blass aber entschlossen, die Wiege aus ihren Armen formte. „Kein Weg ist zu fern, wenn er zu ihrem Namen führt“, sagte sie und küsste die Stirn des Kindes. Sie glitten wie Schatten durch das Tor, das die Nacht aus den Angeln gehoben hatte. Die Luft war kalt und roch nach nassem Moos. Unter den Hufen ausgebrachte Rufe, das Scheuern verhaltener Äste, die stumme Sprache der Steine. Über entlegene Pfade führte Ortwin sie, dorthin, wo die Felsen die Worte verschluckten. Einmal hörten sie Hunde in der Tiefe bellen; ein anderes Mal flog ein Uhu so dicht über ihre Köpfe, dass seine Flügel den Wind des Schicksals rührten. Elisabeth begann zu wimmern. Erst zaghaft, als wollte sie die Welt nur vorsichtig berühren. Dann schärfer, hungrig, wie ein kleiner, wacher Wille gegen die Kälte. Marta wiegte sie. „Fast, kleines Herz. Fast“, murmelte sie. Die Mutter legte die Hand über das Brusttuch und schloss die Augen. Friedrich zog die Zügel an. Er hörte, wie drüben jenseits der Furt die Schwarzbanner die Nacht besprachen — klappernde Blechstimmen, Metall, das seine Träume vergaß. Da fing Elisabeths Wimmern Feuer. Es wurde zum Schluchzen, dann zum Schrei, der eine ganze Welt verlangte. Die Pferde warfen die Köpfe, die Männer hielten an wie Bäume im Sturm. Marta sah den Herrn an. „Sie verlangt zu trinken. Und sie wird nicht schweigen, bevor die Welt ihrer Bitte folgt.“ Friedrich blickte in das Gesicht seines Kindes. Es war rot und runzlig wie ein junger Apfel, der es eilig hatte, süß zu werden. „Dann soll die Welt folgen“, sagte er, und seine Stimme war leise und groß. „Meine Tochter soll trinken — und koste es den Frieden aller Wege, koste es das halbe Thüringerland.“ Er nahm den Schlauch von seiner Schulter, aber Marta schüttelte den Kopf. „Nicht das, Herr. Sie verlangt mich.“ Sie löste, was gelöst werden musste, mitten zwischen Dornengestrüpp und Felsenschatten, und die Nacht schien die Augen abzuwenden. Elisabeths Schreien wurde zum Saugen, das Saugen zum Seufzer, der Seufzer zum Schlaf. Ein kurzer, wärmender Frieden breitete sich aus wie eine kleine Decke. Und gleich darauf hörten sie Stimmen. Nicht fern, nicht nah — in jener Entfernung, in der man die Lüge noch für ein Gerücht halten kann. „Weiter“, zischte Ortwin, und sie ritten wieder an, tief in den Wald hinein, wo die Wege nur als Erinnerung existieren. Einmal stürzte ein Fuchs vor ihnen her, so rot, als habe er die Kohlen der Lagerfeuer geerbt. Ein anderes Mal stand ein Reh im Weg und sah sie an, als trüge es die alte Kunde von Vater und Kind in seinen Augen. Die Hügel hoben und senkten sich wie eine alte, wahre Geschichte, und über allem ging der Mond, dünn und tapfer. Gegen Morgen, als die Fichten schwärzlich wurden und die Wiesen wie begossene Schafe dalagen, sahen sie die Umrisse von Tenneberg. Die Türme standen wie erhobene Finger im ersten Licht, und vom Wehrgang fiel schon die Ahnung eines Glockentons. Auf dem letzten Hügel stellten die Schwarzbanner ihnen eine Frage aus Eisen: fünf Reiter, dunkel, die lanzenlangen Schatten vor sich herziehend. Ortwin lachte kurz. „Ich kenne ihre Pferde. Sie kennen meine Wege.“ Und dann war alles Bewegung: ein Bogen wie ein geflüsterter Halbmond, die Pfeile wie schnelle Entschlüsse, das Splittern einer Lanze, der Schnaufer eines erschrockenen Tieres. Friedrich ritt, wie Väter reiten, wenn das Herz ihnen die Ferse wird. Er hörte hinter sich das Ringen der Männer, das Keuchen, das Klirren, das Verstummen. Elisabeth hielt das Kind so still, als wäre es schon getauft. Die Pforte von Tenneberg sprang auf wie ein freundliches Auge. Ein Wächter, Berthold, rief, ein anderer hob die Hand, und die Reiter stürzten in den Hof, wo der Morgen endlich seinen Mantel ablegte. Der Priester – Johann, ein Mann, dessen Bart das Grau der ersten Stunde trug – trat aus dem Schatten der Kapelle. „Ihr habt ihn schnell gemacht, den Weg“, sagte er, „schnell und lang.“ Marta legte Elisabeth in die Arme der Mutter. Friedrich trat vor und kniete, als stelle er sein Herz auf eine Schwelle. „Gib ihr einen Namen, Vater“, sagte Elisabeth, und ihre Stimme war müde und stolz. Der Priester lächelte, als habe er ein Wunder erkannt, das sich selbst für selbstverständlich hielt. In die Schale fiel Wasser, das nach Berg roch, nach Quelle und Geduld. „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“, murmelte er. Das Wasser strich über Elisabeths Stirn, und in jenem Augenblick klangen die Glocken – nicht laut, nicht prunkvoll, sondern so, als hätten sie eine Botschaft im Flüstern zu tragen. Als sie aus der Kapelle traten, wartete Ortwin mit Blut an der Schulter und einem Lächeln, das von fern kam. „Sie werden Geschichten von euch erzählen“, sagte er. „Von einer Mutter, die die Nacht gebändigt hat, von einem Vater, der dem Schrei seines Kindes den Vorrang vor allen Trompeten gab.“ Friedrich hob Elisabeth in das Morgenlicht. „Nein“, sagte er, und seine Augen waren hell wie der Rand der Sonne, „sie werden Geschichten vom Wasser erzählen, das seinen Weg findet, und von Namen, die wie Brücken sind.“ Und Elisabeth legte die Hand auf seine, und Marta stand neben ihnen, schwer atmend, glücklich, ganz Himmel und ganz Erde. Später, als die Pferde im Hof ausdampften und die Männer die Kehlen mit warmem Met wuschen, sah Friedrich durch das geöffnete Tor hinab auf die Wege, die sie gekommen waren. Die Furchen der Hufe schimmerten im Tau wie eingeritzte Zeilen. Er wusste: Manche Geschichten nehmen den Umweg, um im Herzen anzukommen. Und manche Namen müssen durch Dunkelheit gehen, damit ihr Licht nicht bloß Gold, sondern Trost sei. So blieb es im Land als Sage: dass in einer Nacht, die den Mut prüfte und die Liebe entblößte, ein Vater das Wort „soll“ größer machte als „darf“. Eine Mutter, die Schwäche in Stärke kleidete, und ein kleines Mädchen, die Glocken von Tenneberg zum Singen brachte, ehe der Tag recht geboren war. Und wer zwischen Wartburg und Tenneberg über die Klingenpfade wandert und ein fernes Läuten zu hören meint, der glaubt, der Wind trage noch immer ein einziges, sanftes Wort mit sich: Elisabeth. |