Die weiße Frau vom Tenneberg (Die Sage von der weißen Frau)

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Bildinhalt: Sagen und Legenden - Die weiße Frau vom Tenneberg - Anna von Cleve vor der Inquisition im Schloss Tenneberg zu Waltershausen. Der Herzog von Sachsen führt die Verhandlung. Ein Kardinal und ein Pfaffe sind anwesend.

Die weiße Frau vom Tenneberg

Frei interpretiert nach: „Die Sage von der weißen Frau“,
Autor: Jens K. Carl
Illustrator: Jens K. Carl (KI-generiert mit Grok)
Veröffentlicht am: 15.07.2025

Die Fremde am Hof
Als der Herbst sich golden über die Höhen des Thüringer Waldes legte und die Nebel morgens silbern an den Flanken des Hörselbergs hingen, erschien auf Schloss Tenneberg zu Waltershausen eine Dame, deren Antlitz aus einer anderen Zeit zu stammen schien. Ihre Schritte hallten würdevoll durch das Pflaster des Innenhofs, und ihr Gewand – ein Mantel aus samtener Tiefe mit silbernen Stickereien – ließ die Mägde kichern, die Stalljungen flüstern und die Ritter stutzen.

Sie nannte sich Anna von Cleve, eine Frau mit Namen, der Geschichte trug. Geschiedene Gemahlin des Königs Heinrich VIII., so lautete ihre Behauptung. Der Herzog von Sachsen, jung noch und dem Glanz ferner Königshäuser nicht abgeneigt, empfing sie in den oberen Gemächern des Schlosses, wo einst seine Großmutter residiert hatte. Anna sprach Französisch, Latein, auch das Niederdeutsche war ihr nicht fremd. Ihre Hände führten Gesten, die aus Höfen stammten, nicht aus Küchen. Und dennoch: Irgendetwas in ihrem Blick verriet die Sehnsucht – oder war es die Angst? – eines Menschen, der zu lange im Schatten gelebt hatte.

Die Tage vergingen, die Abende wurden länger, die Gespräche im Hof leiser. Es fehlten Zeugen ihrer Herkunft, fehlten Urkunden, fehlten Zeichen, die ihren Stand belegten. Ihr Schweigen über Vergangenes wurde zur Einladung für Zweifel.

Schließlich, an einem stürmischen Oktobertag, versammelte man sich im Rittersaal. Der Herzog sprach mit jener Härte, die einem enttäuschten Herzen entspringt. Die Dame blieb ruhig, sprach wenig. Die Hofchronisten dokumentierten widersprüchliche Angaben: einmal Tochter eines Herzogs aus Cleve, dann Magd aus Calais. Die Masken fielen – oder wurden ihr genommen.

„Warum habt Ihr den Hof getäuscht?“, fragte der Kanzler.
„Ich suchte Schutz in einer Rolle, die mich leben ließ“, entgegnete sie.

Doch das genügte nicht. Noch in derselben Nacht vermauerte man die Tür ihres Gemachs. Das Zimmer wurde ein Kerker. Der Hof schwieg. Die Frau verschwand – nicht aus den Mauern, sondern aus dem Gedächtnis.

Die Stimme in der Stille

Die Stille ist mein Gefängnis. Ich spreche nicht mehr mit Lippen. Nur mit Gedanken, die wandern, wie ich es einst tat, durch fremde Lande, über steinerne Brücken und unter wehenden Bannern.

Sie nahmen mir den Namen – Anna – als wäre er zu kostbar für eine Lügnerin. Doch wer bestimmt, was Wahrheit ist? Ich trug Geschichten wie Gewänder. Wenn eines zerriss, nahm ich ein neues. Nicht um zu täuschen – um zu überleben.
Hier, im vermauerten Turm, bin ich keine Hochstaplerin. Keine Königin. Ich bin Erinnerung. Ich bin Stimme ohne Zeit.

Die Nächte sind lang. Ich lausche dem Wind, der durch die Ritzen pfeift wie alte Lieder. Ich spreche mit Schatten, die mir ähnlich sehen – gebrochen, wartend. Mein Kleid ist weiß. Nicht aus Reue, sondern aus Schweigen.

Ich sehe die Porträts in der Halle. Ihre Augen starren auf mich, doch sie erkennen mich nicht. Ich berühre die Holzleisten der Türen, die sich nie öffneten. Die Welt hat mich vergessen. Und dennoch wandere ich weiter, durch Träume, durch Flure, durch Fragen.

Was bleibt von mir?

Vielleicht ein Flüstern. Vielleicht ein Gedanke. Vielleicht die Ahnung, dass ich war – anders, aber wahr.

Nachhall

Die Generationen vergingen. Tenneberg alterte mit Würde. Moos bedeckte die Mauern, Efeu rang sich bis zu den höchsten Giebeln. In den Dörfern rund um Waltershausen wurde die Geschichte der weißen Frau zum Märchen. Kinder flüsterten ihren Namen an Lagerfeuern, ältere Frauen zogen den Mantel enger, wenn sie am Schloss vorbeigingen.

Eines Abends – wieder war es Herbst – trat ein junger Mann durch das Portal der alten Burg. Er trug ein Notizbuch, einen Federhalter und die Neugier einer Seele, die auf Suche war. Er war ein Nachkomme – entfernt zwar, aber verbunden durch Blut und Geschichte. Seine Urgroßmutter hatte ihm einst gesagt: Wenn du je den Klang hörst, der nicht aus dieser Welt stammt – lausche, aber fürchte nicht.

Er ging durch die Gänge, berührte das Mauerwerk, sprach leise: „Anna. Bist du da?“

Die Luft veränderte sich. Ein silberner Schleier senkte sich herab. Und eine Stimme antwortete – zart, wie Tau: „Du willst wissen, ob ich wirklich war?“
Der Mann erschrak nicht. Er sprach: „Ich habe deine Namen gelesen. Ich kenne deine Geschichten. Aber ich spüre – es fehlt etwas. Deine Wahrheit.“
„Ich war eine Möglichkeit,“ sagte die Stimme. „Eine Geschichte, die keinem Ort gehörte. Ich war ein Wunsch, eine Angst, ein Versuch, zu sein.“
„Ich will dich nicht richten,“ flüsterte er. „Ich will dich schreiben.“
„Dann bin ich nicht vergessen,“ sagte die Stimme.
Er öffnete das Notizbuch, schrieb vier Worte: Anna. Turm. Stimme. Wahrheit.

Dann verließ er das Schloss. Und der Nebel zerfiel wie Seide. Doch in einem der Turmzimmer lächelte ein Schatten. Nicht gebrochen. Nur angekommen.

Die weiße Frau vom Tenneberg

Frei interpretiert nach: „Die weiße Frau auf Schloss Tenneberg“,
Autor, Komposition und Video: Andreas Erbe.
Veröffentlicht am: 21.06.2025

Andreas Erbe, Sänger und Gitarrist der Band ZOÈ aus Waltershausen, hat die Sage um „Die weiße Frau auf Schloss Tenneberg“ in einem Song niedergeschrieben:

Andreas Erbe - Lichtenfels - Die weiße Frau vom Tenneberg auf Märchenhaftes-Thüringen.DE

„Das Mondlicht steht bleich über Schloss und Flur
Ihr Schleier glüht wie Nebel in der Spur
Ein Seufzen fliegt, wo ihre Füße geh’n
Vergessne Träume in den Mauern steh’n

Ihr Herz verlor sich einst in einem Spiel
Verhüllt in Sehnsucht, Stolz und süßem Ziel
Verbannt vom Glanz, den sie nur flüchtig sah
Verklang ihr Lied im Dunkel Jahr um Jahr

Wer ist sie, Wer kennt ihren Namen
So viel Geheimnis und so viele Fragen
Wer ist sie, Wer kann es sagen
Die weiße Frau und so viele Fragen

Und doch —
ihr Blick, er sucht noch sanft und sacht
Nach Liebe, die in falscher Stunde wacht
Ein Hauch von Duft, ein Kuss im Wind verweht
Die weiße Frau, die nie zur Ruhe geht.“


Veröffentlicht am 21.06.2025.

© Mit freundlicher Genehmigung: Lichtenfels und Andreas Erbe.

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Ein Kommentar:

  1. Sehr schön geschrieben. Vielen Dank für die Geschichte.

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